Lesereise Finnland
zwei, drei Stunden Platz, doch finster wird es nicht. Die Farbe Schwarz gibt es im skandinavischen Sommer nicht. Die Farbe Nachtblau dürfte hier erfunden worden sein.
Von Mitte Mai bis Mitte Juli wird es kaum dunkel. Davor und danach, bis Mitte April und wieder von Mitte August an, ist es hier bei Nacht stockfinster – keine unermüdliche Mitternachtssonne, keine Autoscheinwerfer, keine Straßenlaternen, einfach gar nichts. Nur die passende Dunkelheit zur völligen Stille.
Gedanken kreisen irgendwo in der Luft, tanzen auf den Miniaturwellen. Ziellos und planlos. Ohne Orientierung. Einfach rundum entspannt. Nichts und niemand stört. Ist das Radio still, dann bleiben nur die Stimmen der Tiere. Die der Waldeulen zum Beispiel.
Allenfalls das Sirren mancher Mücken dringt ansonsten noch ans Ohr. »Den einen«, hatte Vesi gesagt, »den einen stört es, dass hier beizeiten zu viele Mücken unterwegs sind, den anderen, dass zu wenig Abgase in der Luft sind.« Er legte seinen Dreitagebart in fröhliche Falten.
Und als er erstmal ins Plaudern gekommen war, erzählte er die Geschichte, wonach kürzlich ausgerechnet ein Kanadier in diesen fernen Winkel Finnlands ausgewandert sei. Der habe endlich seine Ruhe haben und unbehelligt mitten in der Natur leben wollen. In Kanada ginge das nicht – viel zu dicht besiedelt sei es dort, viel zu viel los gewesen … Dichtung oder Wahrheit? Die Grenzen sind fließend. Ein Bauer hört etwas, erzählt es Tage später bei günstiger Gelegenheit dem Krämer in Kerimäki weiter, fügt etwas hinzu, lässt etwas anderes weg. Der wiederum erzählt es dem Fischer, von dem hört es Vesi …
Ähnlich verhält es sich mit der Story vom Affenmenschen, der in den Wäldern jenseits der finnisch-russischen Grenze in Ostkarelien herumtrampeln soll. Irgendwo im Dickicht hause er dort. Und immer dann tauche er auf, wenn die Lokalzeitungen mal wieder einen Knüller brauchten. Schöne Grüße vom Yeti. Sehr viel wahrscheinlicher als ein Tête-à-Tête mit dem skandinavischen Flachlandkumpel des Himalaya-Schneemenschen ist, frühmorgens einen irritiert dreinschauenden Elch vor der Ferienhausveranda entlangtraben zu sehen. Am dritten Tag wird es so weit sein. Spätestens. Und könnte der Elch sprechen, er würde sich hilfesuchend nach dem Weg erkundigen wollen.
Aus Eis geboren
Lumi Linna bei Kemi: in der größten Schneeburg der Welt
Raija Palonpää ist arbeitslos geworden, weil es zu wenig Todesfälle gibt. In Kemi sterben wenige Menschen, weil dort nicht viele leben. Ihr Chef war Steinmetz und verdiente mit seinen Grabsteinen nicht mehr genug, um damit mehr als nur sich selbst zu ernähren. Zwei Jahre lang suchte sie einen neuen Job in der nordfinnischen Kleinstadt, die auf derselben geografischen Breite wie Südgrönland und Zentralalaska liegt.
Jetzt hat sie ihn. Er ist befristet auf die Zeit von Anfang Februar bis Ende April und für die junge Frau dennoch mehr als nur ein Lichtblick. Halbtags assistiert sie in diesen Monaten dem Eisskulpturenkünstler Mauri Markkanen. Die andere Hälfte des Tages hockt sie im Kassenhäuschen der Schneeburg Lumi Linna und sammelt die Eintrittseuros der Besucher ein.
1995 hatte Seppo Lankinen die Idee mit der Festung aus Eis. Die strukturschwache Region am Nordzipfel des Bottnischen Meerbusens brauchte ein Attraktion, um Menschen von anderswo in diesen Winkel Finnlands zu locken. Um sie zum Geldausgeben zu bewegen. Um Hotels und Restaurants zu füllen, den Tourismus anzukurbeln. Und um Jobs zu schaffen. Die größte Schneeburg der Welt sollte es werden, jeden Winter sollte sie aufs Neue entstehen. Sie sollte das strahlendste, das schönste, das originellste Projekt gegen die Arbeitslosigkeit weit und breit werden. Und das Kälteste. In Lankinens Fantasie nahm das Projekt in kürzester Zeit Formen an, mit seinen Skizzen, seinen Plädoyers überzeugte er den Gemeinderat. Die Burg sollte entstehen aus Material, das möglichst wenig kostet, im Idealfall vom Himmel fällt und in diesen Breiten die Hälfte des Jahres im Übermaß vorhanden ist.
Für Kemi ist Lumi Linna längst ein Gewinn. Rund eine halbe Million Euro aus Steuergeldern investiert die Gemeinde alljährlich in den Bau. Hundertvierzig Saisonarbeitsplätze entstehen jeden Winter rund um die Schneeburg. Und über dreihunderttausend Besucher strömten in den vergangenen Jahren in der Zeit von Anfang Februar bis Mitte April nach Kemi, um das glitzernde Machwerk der Leute um Lankinen zu bewundern. Sie ließen
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