Lesereise - Inseln des Nordens
Snorris Zeiten auf demselben Hof zu hocken.
Snorri Sturluson, geboren 1179, schrieb die »Snorra-Edda« auf – und alle kannten sie bald. Denn in dieser unwirtlichen Gegend, am Nordrand der Welt, lebte im Hochmittelalter ein Volk von Schriftkundigen. Wie literarische Salons steigen aus unserer Fantasie die Bauernhöfe der Vergangenheit empor, wir sehen vor uns in den langen Wintern in den langen, dunklen Nächten die Menschen an Tischen aus sibirischem Treibholz sitzen, die Wände ihrer Häuser aus geschichtetem Torf düster und feucht, eine Kerze flackert, eine Feder kratzt. Der Hofherr, goði genannt, vollendet die feinsäuberliche Abschrift des Gesetzbuches. Schließlich, Zeit hatten sie ja. So gab es also auf jedem großen Hof jemanden, der lesen und schreiben konnte, und es gab auf jedem großen Hof eine Abschrift des Gesetzbuches. Wenn sie sich dann alljährlich im Süden Islands zum Alþing trafen, zur großen Staatsversammlung, brachten die goðar ihre eigene Ausgabe des Kodex mit. Durch Wind und Wetter schafften sie das Buch heran, auch die, die zur Thingstätte über die ganze Insel reiten mussten, hindurch durch Ódáðahraun, die Missetäterwüste, so genannt, weil sich dort die Verbannten aufhielten. Dann weitergeprescht, gesprengt, das Pferd zuschanden geritten in Sprengisandur, der Hochebene westlich vom riesigen Gletscher Vatnajökull. Das nämlich heißt Sprengisandur: das Pferd zuschanden reiten.
Dann war es aber wieder gut mit dem Herumreisen, zurück auf den Hof! Isländer waren schollengebunden, sie waren einmal übers Meer gefahren und hatten sich dann am besten gar nicht mehr bewegt. Außer wenn einer Randale machte und des Landes verwiesen wurde. Halbnomadisches Herumziehen, wie es die Samen mit ihren Renherden in Nordskandinavien praktizieren, musste ihnen verwegen erschienen sein.
Die Zeiten ändern sich freilich. Reykjavík zählt hundertachtzigtausend Einwohner, die entlegenen Höfe aber entvölkern sich. Reykjavík vibriert, nicht weil es wie die ganze Insel auf der Sollbruchstelle der Erdkruste liegt, sondern weil die jungen Isländer ihre Hauptstadt erobern, Autocruisen nach Mitternacht zählt zu ihren Hauptvergnügen, einer fährt, die anderen trinken. Auch deswegen haben viele Isländer zwei oder gar drei Jobs; Island war immer schon sogar für Isländer teuer, auch vor der Finanzkrise. Die zahlenverliebte Reiseleiterin arbeitet auch im Statistischen Landesamt, was uns nicht wundert, und der freundliche Jeepfahrer, der sich nach beängstigenden Geräuschen in einen Monteursanzug hüllt, sich ohne Zögern unter den Allradwagen wirft und eine Getriebewelle ausbaut, ist eigentlich Goldschmied. »Wir zahlen 24,5 Prozent Mehrwertsteuer«, weiß die Reiseleiterin, dafür nur sechzehn Prozent auf Grundnahrungsmittel. Bier gehört nicht zu Letzteren, ein kleines Bier kostet sechs Euro in Reykjavíks Kneipen. Der Schnaps zum Aufwärmen nach der Reittour heißt brennivín , ist unbezahlbar und schmeckt wie Brennspiritus.
Nach der Reittour bringt uns der Jeep zum Golden Circle, der beliebtesten Runde im Süden Islands, die Island-an-einem-Tag-Tour. Wir sehen den historischen Versammlungsplatz Þingvellir, genau im Graben der auseinanderdriftenden Kontinentalplatten gelegen, eine junge Frau in einem bodenlangen roten Kleid schreitet durch die Schlucht, ihr Begleiter in schwarzem Outfit macht den Gothic-Eindruck perfekt. Fast gespenstisch, dass sie auch noch in einer Sprache reden, die sich seit tausend Jahren fast nicht geändert hat. Isländer können bist heute ohne Übersetzung die »Snorra-Edda« lesen. Deutsche täten sich, etwa mit dem Nibelungenlied aus derselben Zeit, schwerer.
Auch in Þingvellir regnet es, aber damit soll es nun genug sein mit meteorologischen Betrachtungen, denn Wetter ist auf Island kein Thema. Als wir auf dem Gletscher eine Motorschlitten-Tour unternahmen, knallte die Sonne aufs Eis und in die Augen, und eines Morgens hörte man Donnergrollen. Es gibt auf Island immer von allem und das fast jeden Tag – tropische Temperaturen mal ausgenommen. Wobei es wärmer ist, als mancher denkt, schon der inselumspannenden Fußbodenheizung wegen, der Geothermal-Wärme, die Quellen anheizt und an Geysiren zum Dampfkochtopf wird. Und umspült wird die nordische Insel vom klimatisch gar nicht arktischen Meer, das der Golfstrom wie ein Tauchsieder erwärmt. So betragen die sommerlichen Durchschnittstemperaturen etwa fünfzehn Grad, so warm kann es aber auch mal im Februar
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