Lesereise - Israel
tobte, erfuhr Abunassar dies am eigenen Leib: »In Haifa wurden Mitglieder meiner Gemeinde von Raketen der Hisbollah getötet. Im Libanon fielen israelische Soldaten, von denen einige meine Studenten waren, während israelische Kampfflugzeuge Bomben auf Dörfer warfen, in denen Verwandte meiner Mutter leben.«
In der einst von Christen dominierten Stadt Nazareth, der größten arabischen Stadt Israels, war im Dezember 2009 kaum etwas vom nahenden Weihnachtsfest zu spüren. Nur wenige Geschäfte in unmittelbarer Nähe zur Verkündigungsbasilika waren mit Bäumchen und Weihnachtsmännern geschmückt. Die Basilika ist die wichtigste Pilgerstätte Nazareths. Sie erhebt sich über der Grotte, in der, der christlichen Überlieferung zufolge, Erzengel Gabriel Maria die Geburt des Erlösers verkündete. Die Muslimbruderschaft wählte ausgerechnet den zentralen Platz neben der Kirche, um zwei große Trotzbanner auf Englisch und Arabisch aufzuhängen. Sie sollen deutlich machen, wer jetzt Herr im Hause ist, und zitieren die Ichlas , die hundertzwölfte Sure des Koran, die die Einheit Gottes als Gegensatz zum Christentum erklärt: »Allah ist der einzige, ewige, absolute Gott. Er hat nicht gezeugt, und niemand hat ihn gezeugt, und niemand kommt ihm gleich!« Tagtäglich müssen die Christen auf ihrem Weg zur Basilika unter der Hetzschrift hindurch: »Am besten man ignoriert sie, sonst verschafft man den Extremisten Genugtuung«, sagt Abunassar. Doch Christen in der Stadt berichten hinter vorgehaltener Hand über die Spannungen in den Beziehungen mit der muslimischen Mehrheit.
Der Umstand, dass Christen im Nahen Osten eine Minderheit sind, ist nicht neu. Spätestens seitdem die Araber im Jahr 638 Palästina eroberten, werden die Geschicke der Kirchen hier von anderen bestimmt. Doch Fuad Farah, ein achtzigjähriger griechisch-orthodoxer Christ aus Nazareth und Buchautor, sieht zu Weihnachten schwarz: »Unsere Lage war noch nie so prekär wie heute. In wenigen Jahrzehnten wird es hier keine Christen mehr geben.« Die imposanten Gebäude einer zweitausend Jahre alten Tradition würden zu leeren Fassaden, Kulisse für die rund zwei Millionen Pilger, die Jahr für Jahr ins Land strömen. Ein aktives Gemeindeleben gehöre der Vergangenheit an, so Farah.
Neben dem politischen Druck ist die schrumpfende christliche Minderheit in Israel zunehmender wirtschaftlicher Pression ausgesetzt. Einst war sie die urbanste Schicht mit dem höchsten Bildungsstand. Christen bildeten die geistliche und politische Elite. Doch mit dem hohen Bildungsstand sank die Geburtenrate, ihr Anteil an der Bevölkerung nahm kontinuierlich ab. Waren vor sechzig Jahren noch zehn Prozent der Bevölkerung Christen, machen sie heute noch knapp zwei Prozent aus. In der israelischen Demokratie fallen sie deswegen kaum noch ins Gewicht. »Vom Staat erhalten wir nur die Reste«, sagt Abunassar. Hinzukommt, dass die Muslime immer gebildeter werden. »Sie konkurrieren um die Jobs, die früher nur Christen machten. Und wir können nirgends ausweichen«, sagt Farah.
So ist es kaum ein Wunder, dass immer mehr Christen sich für die Emigration entscheiden. Dieser Trend ist nicht neu, schon vor hundertzwanzig Jahren begann die Auswanderung angesichts von Hunger, Not und Unterdrückung durch die damals muslimischen Machthaber des osmanischen Reichs. Auswanderungsziel sind die etablierten palästinensischen Gemeinden in Amerika und Australien. Inzwischen sind nur noch so wenige hier im Land, »dass wir die Auswanderung jeder Familie spüren«, sagt Abunassar.
Rettung könnte überraschenderweise vom Judenstaat kommen. Der brachte im Rahmen einer großen Einwanderungswelle aus der Sowjetunion Hunderttausende Menschen ins Land, die zwar eine lose Verbindung zum Judentum nachweisen können, aber trotzdem mit christlichen Traditionen verbunden sind. »Nicht selten kommen meine russischen, vermeintlich jüdischen Nachbarn in Haifa zu mir, damit ich ihnen heimlich bei uns eine Taufe organisiere«, lacht Abunassar. So weigert er sich, pessimistisch zu sein: »Wenn wir uns auf unseren Glauben besinnen, werden wir hier überleben. Daran glaube ich ganz fest.«
Der Schmelztiegel
Im Verhältnis zu seiner Größe hat Israel mehr Einwanderer aufgenommen als jede andere Land der Welt
Die kleine Bäckerei verkauft fast nur dunkles russisches Brot. Im Fernseher an der Wand läuft eine russische Seifenoper. »Priviet«, begrüßt die blasse blonde, blauäugige Verkäuferin eine Kundin, die
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