Lesereise Malediven
Display seines Handys. »Hier, die haben wir heute bekommen«, sagt er und reicht mir das Telefon. Zu sehen ist eine Tsunami-Warnung für sämtliche Anrainerstaaten des Pazifischen Ozeans. »Ist zum Glück ganz weit weg«, sagt der Hotelmanager. »Aber früher haben wir solche Warnungen nie bekommen. Jetzt kommt fast jede Woche eine.«
Früher bedeutet: vor dem verheerenden Tsunami, der am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 an den Ufern des Indischen Ozeans fast dreihunderttausend Menschen – etwa ein Drittel davon Kinder – in den Tod riss. Bis zu diesem Tag hatte niemand in Südostasien etwas auch nur annähernd Vergleichbares erlebt. Auch die Wissenschaftler wurden von der Katastrophe überrascht. Während der Pazifik seinen Beinamen des »Stillen Ozeans« völlig zu Unrecht trägt und immer wieder von Monsterwellen aufgewühlt wird, galt der Indische Ozean als nicht gefährdet. So gab es auch kein Warnsystem für dieses Meer. Und so wurde keiner der Menschen an seinen Ufern auf die Gefahr eines Tsunamis hingewiesen, als am 26. Dezember 2004 ein Beben der Stärke 9,1 den Meeresboden vor der indonesischen Insel Sumatra erschütterte. Und das, obschon mit Ausnahme der Küstenbewohner der indonesischen Provinz Aceh, die in unmittelbarer Nähe des Epizentrums lag und wo zwischen Beben und Wellen nur fünfzehn Minuten lagen, sehr viele Menschen Zeit gehabt hätten, sich in Sicherheit zu bringen.
Auch auf den Malediven trifft die Katastrophe die Menschen unvorbereitet. Dabei sind die Küsten Südwestthailands und Sri Lankas bereits zerstört, als die Tsunami-Wellen drei Stunden und zwanzig Minuten nach dem Seebeben auf die Atolle treffen. Dennoch kommen die Inseln verhältnismäßig glimpflich davon. Hundertzwanzig Menschen werden durch die Flut getötet. Mehr als zehntausend Malediver verlieren ihre Häuser.
Weil Atollinseln senkrecht aus dem Wasser ragen, bauen sich vor ihnen keine Riesenwellen auf wie an flach ansteigenden Ufern. Die vorgelagerten Korallenriffe dämpfen außerdem die Wucht des Wassers. So steigt der Meeresspiegel dramatisch an – ähnlich wie bei einer starken Springflut. Allerdings gibt es auf den Malediven keine Erhöhungen, auf die man sich retten könnte, weshalb auch eine Woge von einem bis drei Metern Höhe apokalyptische Wirkung haben kann. Das schnelle, unaufhaltsame Ansteigen des Wasserspiegels ist auf einer flachen Atollinsel kaum weniger furchterregend als eine heranstürmende Wasserwand.
»Es war furchtbar«, sagt eine junge Frau, die zum Zeitpunkt des Tsunamis auf einer Resort-Insel im Nord-Mal é -Atoll in der Telefonzentrale arbeitete. »Ich saß im Büro und hatte zunächst überhaupt nichts mitbekommen. Plötzlich rief eine Frau an und sagte, ihr Zimmer sei überflutet, jemand müsse sie herausholen. Bevor ich antworten konnte, war die Leitung unterbrochen.« Schon ein paar Minuten später drang das Wasser bis ins Hauptgebäude vor. Die Menschen klammerten sich an Gebäudeteilen und Palmenstämmen fest. »Das Wasser stieg an und blieb stehen. Dann stieg es weiter an und blieb für ein paar Stunden.« Die Strömung war stark, das Wasser, schlammig und trüb, hatte nichts mit dem Meer zu tun, das man kannte. Schließlich sank es wieder. In der Nacht kam die Warnung vor einem weiteren Tsunami – die sich glücklicherweise als falsch herausstellte.
»Die dritte Welle hat die Insel ganz überspült«, erzählt Armando Kraenzlin. Der Schweizer war 2004 General Manager des Resorts auf Kuda Huraa, das durch den Tsunami zerstört wurde – wie fast ein Drittel der Hotelanlagen der Malediven. Ein Riesenglück habe man gehabt, dass niemand auf der Insel zu Schaden kam. Eine Urlauberin erzählte ihm später, wie ihre beiden kleinen Kinder auf dem Bett spielten, als das Wasser ins Zimmer flutete. Wie die Welle die Matratze mit den Kindern darauf anhob, während sie sich hilflos an einem Balken festklammerte. Und wie die Matratze auf dem Wasser trieb, bevor sie mit ihm wieder sank. Den Kindern geschah nichts. Die Hotelanlage war jedoch ein Trümmerfeld. Das Wasser hatte Türen und Fenster der Gebäude eingedrückt und die Einrichtung davongetragen. Stühle, Tische, herausgerissene Bretter, Koffer, Kleider und Tauchausrüstungen trieben über die Insel. Zurück blieben Schlamm, Schutt – und Angst.
»Ich habe noch lange emotional reagiert, wenn ich auf den Tsunami angesprochen wurde oder plötzlich wieder daran dachte«, sagt Armando Kraenzlin. Es sollten Jahre vergehen, bis das
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