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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Noll
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wir als Kultur hinwollen«, sagt Teng. Mit der Einheit von Entwurf und Produktion, von Geschäft und Handwerk geht für diese Modeschöpfer etwas Wesentliches verloren.
    Gary Babb hat derweil wesentlich konkretere Sorgen. Seine Ladenmiete wird von Jahr zu Jahr teurer, er hat immer größere Probleme, seine Angestellten zu bezahlen. Die Angebote, die er immer wieder von großen Labels bekommt, ihm seinen Laden abzukaufen, klingen für ihn immer verlockender – auch wenn es ein Familienbetrieb in dritter Generation ist. Paron Fabrics an der 40th Street würde dann eine Musterwerkstatt für Donna Karan oder für Ralph Lauren, ein Ort, wo schnell mal ein Prototyp genäht oder für die Fashion Week ein Modell nachgebessert werden kann.
    Mit dem, was der Garment District einmal war, hätte das freilich nicht mehr viel zu tun. Aber es wäre immerhin besser als die Auslagerung nach Hongkong – für New York als Modestandort und für die Einheit von Entwurf und Produkt. Aber was würde Gary dann machen? »Keine Ahnung«, sagt er und zuckt mit den Schultern. Ein Leben ohne den Garment District, wo er schon als kleiner Junge Stoffe geschnitten hat, ist für ihn einfach nicht vorstellbar. Vielleicht wartet er deshalb doch noch ein wenig mit dem Verkauf. Noch kommen ja ein paar Leute, um Stoffe zu kaufen. Noch ist der Garment District ja nicht tot.

Das goldene Herz Manhattans
Nirgends ist die Energie New Yorks so unmittelbar zu spüren wie morgens um acht im Grand Central Terminal
    Das Ächzen der sich öffnenden Zugtüren ist wie der Startschuss zu einem Marathonlauf. Innerhalb einer Zehntelsekunde ist der Bahnsteig Nummer hundertneunzehn schwarz vor Menschen, die im Laufschritt die Rampe zur großen Haupthalle des New Yorker Grand Central Terminal hinaufhasten. Von dem Augenblick an, in dem ihre Schuhspitzen erstmals den Boden von Manhattan berühren, nehmen die Vorstadtpendler den hektischen beat der Stadt auf, werden Teil eines schwindelerregenden Strudels, der wie eine Zentrifuge Millionen von Menschen von hier aus in die Straßen New Yorks schleudert. Nirgends ist der Takt und die Energie von Manhattan so unmittelbar zu spüren wie morgens um acht am Grand Central – jene Energie, die Manhattan ebenso faszinierend wie überwältigend macht.
    Nur nicht stehen bleiben. Immer weiter, zum anderen Ende der Halle, die Rolltreppe hinab in die U-Bahn. Oder hinaus auf die Straße in die lange Schlange am Taxistand auf der 42nd Street, wo im Sekundentakt gut gekleidete Damen und Herren in die umliegenden Bürowolkenkratzer von midtown abgeholt werden. Dazwischen schnell bei Hudson News in der Passage von der Halle zur Straße eine New York Times vom praktisch positionierten, hüfthohen Stapel am Kioskeingang gegriffen und der indischen Verkäuferin eine vorausschauend in die Hosentasche gesteckte Dollarnote zugeschoben. Oder einen Pappbecher Capuccino mit auf den Weg, der bei Starbucks unter dem Ostbalkon um diese Uhrzeit im Fließbandtempo abgefüllt wird. Wenn Grand Central das Herz von New York ist, dann rast um acht Uhr morgens der Puls und reißt die Stadt aus ihrer frühmorgendlichen Trägheit wie ein vierfacher Espresso.
    Nichts hemmt an Grand Central den steten Fluss der Massen in die Büros, in die Organe der mächtigen Wirtschaft dieser Metropole. Jeder Schritt, jeder Handgriff sitzt hier in der Rushhour. Die Rädchen in der Maschinerie von Grand Central greifen perfekt ineinander und ebenso perfekt in das größere Räderwerk der Metropole.
    So entsteht wie durch ein Wunder an den unaufhörlich surrenden Drehkreuzen zu den U-Bahn-Gleisen kein Stau, obwohl pro Minute Tausende hier durchkommen. Der New Yorker navigiert so vorausschauend und präzise durch dieses Nadelöhr, dass er niemandem in die Quere kommt. Nur nicht den flow unterbrechen, nicht den eigenen und nicht den der anderen. Immer in Bewegung bleiben – das ist das oberste Gebot an diesem Bahnhof, in dieser Stadt. Im Informationspavillon in der Mitte der Haupthalle gibt der uniformierte Bedienstete so rasch und exakt Auskunft, dass die Kunden vor seinem Gitter sowie die Schlange hinter ihnen praktisch niemals zum Stehen kommen. »Der Zug nach Chappaqua um neun Uhr fünfundvierzig, Gleis fünfzehn. Der Nächste! – Stadtpläne im Kiosk am Durchgang zur Lexington Avenue. Der Nächste! – Nach New Jersey wollen Sie? Da sind Sie am falschen Bahnhof, Sie müssen mit der U-Bahn-Linie 7 zur Pennsylvania Station fahren.« Nicht ein einziges Mal muss er etwas

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