Lesereise Paris
Souvenir.
Es ist Dienstag. Der Louvre und das Centre Pompidou haben geschlossen. Am Eiffelturm ist Parteienverkehr. Von den achteinhalb Millionen Besuchern, die der Louvre jährlich registriert, wollen nach einer inoffiziellen Erhebung 42,7 Prozent die Mona Lisa nicht sehen, 55,3 Prozent gehen der Venus von Milo aus dem Weg und 63,1 Prozent legen keinen Wert auf die Nike von Samothrake. Auch sonst verläuft sich dort das Publikum. Das Centre Pompidou verkauft fünfeinhalb Millionen Eintrittskarten. Aber rund die Hälfte der Besucher des Kulturzentrums betreten weder Ausstellungen noch die Bildergalerie oder die Bibliothek. Sie fahren mit der Rolltreppe an der Fassade empor, um vom fünften Stock aus gratis zu genießen, wofür sie bei Eiffel mehr bezahlen und länger warten müssten – einen Blick auf Paris von oben. Dann gehen sie wieder.
Die 6,8 Millionen Besucher des Eiffelturms kommen nur seinetwegen. Viele von ihnen sind, ohne es zu wissen, Nostalgiker. Wenn im Nordwestpfeiler der doppelstöckige Lift abhebt, versinken im Fundament langsam zwei gewaltige Kessel, die sich mit Seine-Wasser füllen. Denn dort wird der Aufzug noch wie in der Belle Époque hydraulisch gehoben. Schwungräder, Seilzüge, Gegengewichte vermitteln dem Eiffelturm-Fahrer auch in der Höhe keinerlei Flugzeuggefühl. »Das ist Zeppelin, das ist Raddampfer«, ruft begeistert ein älterer Herr aus den USA . Ein japanischer Bub sagt immer wieder ein paar Worte, welche die Wartenden wohlwollend und verständnislos anhören. »Er möchte mit dem gelben Lift fahren«, übersetzt höflich lächelnd sein Vater ins Englische. Alle Nationen sind da, als wollten sie hier den Turmbau von Babel rückgängig machen. Der rote Lift kommt zuerst.
Gustave Eiffels aus dem Rheinland zugewanderter Großvater besaß den Weitblick, seinen angestammten Familiennamen Boenickhausen abzulegen und sich nach der heimatlichen Eifel zu benennen, natürlich pfiffiger, pariserischer, mit zwei »f«. Der Boenickhausen-Turm – »la tour Boenickhausen« wäre kein Erfolg geworden. »La tour Äfféll« wurde zum Wahrzeichen. Beim Umgang mit Namen zeigte auch der Erbauer selber eine leichte Hand. Ursprünglich hatte er von dem Projekt für den Turm, das von seinen Ingenieuren Maurice Koechlin und Emile Nouguier stammte, nichts wissen wollen. Erst als Eiffel merkte, dass die Regierung und die Stadt Paris Interesse zeigten, kaufte er ihnen das Patent ab. Vertraglich sicherte er ihnen ein Prozent des Gewinns und die Erwähnung ihrer Namen zu. Er zahlte, aber der Koechlin-Nouguier-Eiffelturm steht in keinem Reiseführer.
In Eiffels Turmstübchen, das er sich im obersten Stock eingerichtet hatte, können Touristen durch die Fenster spähen. Sein goldenes Denkmal am Fuß des Nordturms strahlt Zuversicht in den technischen Fortschritt aus. Dabei war der Unternehmer Eiffel, der auf drei Kontinenten Brücken und andere Eisenkonstruktionen gebaut hatte, nicht immer erfolgreich. In den Finanzskandal um das erste Projekt für den Panamakanal verwickelt, wurde er sogar zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Zwar hob nach jahrelangem Tauziehen das Kassationsgericht die Strafe auf, doch Eiffel verwand den Schlag nie. Umso mehr identifizierte er sich mit dem Turm. Monoman sammelte er Büsten, Karikaturen, Fotos, Artikel, die sich mit seiner Person beschäftigten. Seine fünf Kinder und seine Mitarbeiter erhielten als Neujahrsgeschenk regelmäßig ein Porträt Eiffels.
Es ist Sonntag. Die Modesalons in der Rue du Faubourg St.-Honoré haben zu, die Warenhäuser auch, die meisten guten Restaurants gleichfalls. Aber der Eiffelturm ist geöffnet. Die Treppen im Südwestpfeiler sehen aus wie Ameisenstraßen. Denn man kann es auch billiger haben und die unterste Plattform für vier Euro fünfzig zu Fuß erreichen. Zu Fuß ging auch Adolf Hitler: Bei seiner Stadtrundfahrt im Juni 1940 waren angeblich die Lifte defekt. Er soll nur bis zum zweiten Stock gekommen sein, dann ging ihm – symbolisch für den weiteren Kriegsverlauf – der Atem aus. Vier Jahre lang ließen die Deutschen keine Franzosen auf den Eiffelturm. Schon im Ersten Weltkrieg hatte der Feind die Antennen an der Spitze genutzt: Durch aufgefangene deutsche Funksprüche erfuhr der französische Generalstab 1914, dass die rückwärtigen Verbindungen der deutschen Truppen, die auf Paris vorstürmten, dünn waren. Die Zeit war reif für die Gegenoffensive und das »Wunder an der Marne«. Wieder durch Funksprüche kamen die Franzosen auf
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