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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Brill
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als hätte sich die Wirklichkeit ein Beispiel am absurden Theater genommen, dem er als Dramatiker so sehr verpflichtet ist. »Nicht nur die Amerikaner oder andere Ausländer halten mich für eine Art Märchenprinz oder mindestens für die Hauptgestalt einer märchenhaften Geschichte, sondern auch mir kommt von Zeit zu Zeit mein Schicksal absolut unwahrscheinlich vor«, schreibt Václav Havel. Hunderte absurde Situationen hat er nach eigenen Worten in seiner Rolle als Wortführer der »Samtenen Revolution« von 1989 und danach in dreizehn Amtsjahren als Staatspräsident auf der Prager Burg erlebt. Und über etliche davon erzählt der bekannteste Tscheche der Gegenwart in seinem Buch mit dem Titel »Fassen Sie sich bitte kurz«, das in mehreren Sprachen erschienen ist. Es ist ein seltener, sehr anschaulicher Blick hinter die Kulissen der Macht.
    In der persönlichen Begegnung wirkt der Vierundsiebzigjährige oft ebenso zurückhaltend wie entgegenkommend. In der Tasche hat er meist einen roten und einen grünen Filzstift für den Fall, dass jemand sich eine Signatur in einem seiner Bücher oder einfach ein Autogramm wünscht.
    Dann schreibt er mit schwingenden Bögen in Grün den Namen und malt in Rot ein Herzchen dazu. Nicht eben der Gestus eines Machtmenschen. Und was man im großen Kreis seiner Freunde oder in den Kneipen rund um die Prager Burg über den Künstler erfährt, lässt ihn als einen geselligen und sensiblen, in seiner Haltung freilich sehr entschiedenen Bohemien der alten Schule erscheinen. In seinem Buch erfährt man darüber hinaus, wie verletzlich er in manchen Punkten ist und welche atmosphärischen Schwingungen die tschechische Politik der letzten zwei Jahrzehnte mitbestimmt haben.
    Als versierter Theaterautor legt Václav Havel natürlich nicht irgendeine gängige Art von Memoiren vor. Er gibt der Rückschau die Form einer effektvoll montierten Collage, die auf drei Ebenen sein öffentliches und sein privates Leben auf der Weltbühne der Politik kritisch reflektiert. Interviewfragen des Journalisten Karel Hvížďala und aktuelle Mitarbeiterinstruktionen aus seiner Amtszeit, die er im Computer gespeichert fand, dienen ihm dabei als Leitfaden durch die Zeitgeschichte. Das Ganze ist zudem versetzt mit Betrachtungen aus dem Jahr 2005, die Havel beim Schreiben dieses Buches in Washington in einem Kämmerchen der amerikanischen Kongressbibliothek und danach in seinem legendären Bauernhaus auf dem Land in Hrádeček bei Liberec (Reichenberg) anstellte.
    Absurd erschien ihm vor allem, »dass ich – und gerade ich – mich im Zentrum so wichtiger Ereignisse befand, die das Schicksal vieler Völker und Millionen von Menschen geprägt haben«. War er doch als Prager Bürgersohn, der nicht studieren durfte und beim Militär dem Sonderdrill eines Pionierbataillons ausgesetzt war, 1958 von Budweis mit einem Fahrrad ohne Reifen zur Alarmübung gegen die NATO ausgerückt – und vierundvierzig Jahre später eröffnete gerade er in Prag einen NATO -Gipfel, den ersten, der in einem der neuen NATO -Länder aus dem früheren kommunistischen Block stattfand.
    Nicht weniger absurd erschien dem einstigen Dissidenten seine erste Reise in den Kreml im Frühjahr 1990, wo die Prager Bohemiens, gerade erst zu Staatsmännern avanciert, sich plötzlich von sowjetischer Geheimpolizei umgeben sahen. Sie sollten mit Michail Gorbatschow eine Verlängerung des sowjetisch-tschechoslowakischen Vasallen-Vertrages unterschreiben, zogen aber eine eilig im Flugzeug produzierte andere Erklärung hervor – und Gorbatschow willigte ein. Havel war es dann auch, der im Sommer 1991 beim letzten Gipfeltreffen die Auflösung des Warschauer Paktes, der sowjetisch dominierten Militärorganisation, verkünden konnte – für ihn »einer der ganz besonderen Momente meines Lebens«.
    Neben der Weltgeschichte gewinnt auch die tschechische Innenpolitik in Havels persönlicher Retrospektive manche neue Facette. Der Autor stellt sich, pflichtbewusst bis zur Pedanterie, auch den unangenehmen und heiklen Fragen. Auch an seinem Dauerkonflikt mit Václav Klaus, dem Anführer der tschechischen Euro-Skeptiker, geht er nicht vorbei. Klaus, ein Wirtschaftsprofessor, war 1989 nach dem Kollaps des kommunistischen Regimes zum Demokratischen Bürgerforum gestoßen, wo Havel und seine Freunde das Sagen hatten. »Wir gewöhnten uns an Klaus’ zeitweilige Widerwärtigkeit, an seine Veranlagung, ein Art negative Energie auszustrahlen, an seine Art der Ironie, seinen

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