Lesereise Prag
verächtlich ablehnten. Man erlebt es deshalb dort, wie Ladislav Špaček bemerkt, dass eine Dame am Flughafen sich mit ihrem sperrigen Koffer plagt, dieweil der männliche Nachbar ungerührt weiter seine Zeitung liest. Ein europäischer Kavalier würde natürlich sofort zu Hilfe eilen, ohne Rücksicht auf alle Gleichstellungsbeauftragten der Welt.
Der Fall belegt, dass man Etikette heute auch als Ausdruck höflicher Anteilnahme oder – im Fall des Handys – des demokratischen Respekts vor dem anderen verstehen kann, als Regelwerk gegen kulturelle Verwahrlosung und grassierende Rücksichtslosigkeit. Aus der Sicht der vormals kommunistischen Länder kommt laut Ladislav Špaček noch hinzu, dass diese Nationen nach Jahrzehnten der Isolation nun in den Kreis der europäisch-atlantischen Zivilisation zurückgekehrt sind. Und den »verheerenden Einfluss« des Kommunismus auf die Umgangsformen empfinden Geschäftsleute, Politiker oder Diplomaten dieser Länder durchaus als Manko, das den internationalen Austausch erschwert.
Tatsächlich erlebt man in Mittel- und Osteuropa alltägliche Situationen, in denen noch immer ein rauer Ton dominiert. Erst recht ist die politische Auseinandersetzung durch maßlose Feindseligkeiten und Grobheiten bestimmt. Andererseits finden sich in jeder Prager Straßenbahn mehr junge Leute, die einem Älteren ihren Platz anbieten, als dies in München oder Hamburg der Fall wäre. Und einer der beliebtesten Politiker Tschechiens ist immerhin der Remigrant Karel Schwarzenberg, ein altböhmischer Fürst, der die klassische Etikette ohne alle Scheu zelebriert – bis hin zum Handkuss, der in Tschechien anders als in Polen eigentlich außer Mode ist.
Fundamentale Reste alter Sitten sind also noch vorhanden, so wie die Tschechen aus der jahrhundertelangen Zugehörigkeit zur Habsburger-Monarchie auch die austro-ungarische Hochachtung vor Titeln bewahrt haben: jawohl, Herr Ingenieur, Frau Magister, Herr Redakteur. Anderes verkam. So fiel dem Herrn Praeceptor Špaček auf, dass viele Tschechen beim Essen ihr Besteck in die Luft halten statt zum Teller hin. Überhaupt hat in den Restaurants und in der Kochkunst, wie jeder Kenner bestätigen wird, der Kommunismus die schlimmsten Verwüstungen angerichtet. »Die waren auf solch einem Niveau, dass es völlig gleichgültig war, ob die Leute sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt haben oder nicht, ob sie die Gabel oder das Glas so oder anders gehalten haben«, sagte Špaček dem Tschechischen Rundfunk. »Die Leute haben das einfach verlernt.«
Der Dozent gibt Nachhilfe. In einer Fernsehreihe und mehreren Büchern hat er ausgiebig dargelegt, wie die Dame und der Herr von Welt sich kleiden, sich begrüßen, sich unterhalten und sich verabschieden. Wer sitzt im Auto vorne oder hinten, wer hält wem den Schirm, wer bietet wem das Du an – alles Fragen, die im Geschäftsleben, in der Politik oder in der Liebe unversehens große Bedeutung erlangen können. »Wir sind einander nicht alle gleich«, notiert der Autor. Laut Etikette nämlich rangiert die Frau vor dem Mann, der Ältere vor dem Jüngeren, der gesellschaftlich Höhergestellte vor dem Niederrangigen. Und in allen Lebenslagen sind Taktgefühl und menschliche Anteilnahme geboten.
Der Sittenlehrer braucht für solche Ratschläge nicht auf Habsburger Handreichungen oder gar den deutschen Freiherrn Adolph Knigge zurückzugreifen, sondern folgt eigener nationaler Tradition. Bald nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 überführte der Schriftsteller, Übersetzer und Olympia-Funktionär Jiří Stanislav Guth-Jarkovský als Zeremonienmeister des Präsidenten Tomáš G. Masaryk das alte kaiserliche Protokoll in ein neues republikanisches. Bis heute wird er von kultivierten Tschechen verehrt, und selbstverständlich ist er auch Ladislav Špaček ein Vorbild.
Zum Zweiten schöpft der Herr der Regeln aus eigenen Erfahrungen, die er in dreizehn Jahren als Pressechef des Staatspräsidenten Václav Havel bei festlichen Ereignissen in mehr als fünfzig Ländern sammelte. Havel kam zwar am Anfang manchmal noch im Pullover in die Prager Burg und verschwand gelegentlich in der Kneipe, später wurde er zum perfekten Gentleman.
Sein Helfer Špaček hat damals übrigens auch miterlebt, dass Etikette nicht über alles geht. Beim Festbankett im Thronsaal der Burg erlaubte sich der Brite Prince Charles, bei seiner Ansprache vor den Herren im Smoking und den Damen im Abendkleid die rechte Hand in die
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