Lesereise Schottland
müssen sie auf die Oberschule nach Mallaig, wo sie bei Pflegeeltern untergebracht werden. Die Carrs sehen dem Tag, an dem das älteste Kind aufs Festland muss, mit etwas Traurigkeit entgegen. »Selbst am Wochenende können sie nur selten nach Hause, weil die Fährzeiten ungünstig sind«, sagt Vater Carr.
Colin hat einen Nebenjob, er ist Polizist, »Special Constable«, ein Ehrenamt ohne Bezahlung, denn auf Eigg passiert nicht viel. Einmal, vor vielen Jahren, brachen ein paar Jugendliche aus Birmingham in Sue Kirks kleinen Laden ein, klauten das bisschen Geld und wurden gefasst. Wohin sollten sie auch flüchten? Sein größter Fall war jedoch das Feuer, bei dem zwei Schuppen unten am Hafen abbrannten. In einem davon war Keith Schellenbergs Rolls Royce geparkt. Der Luxusschlitten hatte danach nicht mal mehr Schrottwert. »Der Fall ist bis heute ungelöst«, sagt Carr und schüttelt bedauernd den Kopf. Marie lacht leise in sich hinein. »Es gab keine Zeugen.«
Das zweihundert Jahre alte Bauernhaus der Carrs steht auf dem Hügel am Meer neben einem Wikingertumulus und einem Autofriedhof. Die Entsorgung der rostenden Blechkisten ist ein Problem. Wer auf dem Festland ein neues Auto kauft, muss eine Autofähre mieten. Die ausgedienten Exemplare nimmt sie aber nicht mit, denn das wäre zu teuer. Es gibt ja nicht mal eine Müllabfuhr auf Eigg. Der Abfall wird streng nach Wiederverwertbarem und Brennbarem getrennt, der Rest wird vergraben.
Vor dem Haus der Carrs, wo die Straße endet, ist noch ein anderer Friedhof. An der Stelle hatte der heilige Donnan ein Kloster gegründet. Im Jahr 617 sind die kriegerischen Amazonen, denen die Insel gehörte, vom Sgurr heruntergekommen und haben Donnan und seine zweiundfünfzig Mönche umgebracht. Eilean Nimban More, so hieß Eigg damals, »Insel der großen Frauen«. Um Mitternacht nach dem Massaker soll ein merkwürdiges Licht über den Gräbern geleuchtet haben, und man sagt, mysteriöse Stimmen sangen: »Das Auge Christi auf dem Grab Donnans, nichts Schlechtes dem Grab Donnans.« Die Kirche wurde erst später von den Norwegern bei einem Raubzug zerstört. Im 14. Jahrhundert errichteten die Bewohner ein neues Gotteshaus, aber wegen der Reformation blieb es ohne Weihe und ohne Dach. Die katholischen Messen wurden heimlich in einer Höhle am Meer unterhalb der Grand Lodge gelesen. Man kann sie nur bei Ebbe erreichen, ebenso wie die benachbarte »Massakerhöhle«.
Dort spielte sich 1577 eine schaurige Geschichte ab. Damals herrschten die MacDonalds auf Eigg, die in ständiger Fehde mit den McLeods von der Nachbarinsel Skye lagen. Nachdem es wieder mal ein Scharmützel gegeben hatte, rückten die McLeods mit großem Aufgebot an. Die Inselbewohner versteckten sich jedoch in der Höhle. Man muss sich erst auf allen vieren durch einen Felsspalt zwängen, bevor man in das geräumige und trockene Versteck gelangt.
Es war nicht gut genug, das Versteck, und die McLeods lauerten einem Späher auf, der herausfinden sollte, ob die Luft rein war. Sie folgten ihm heimlich zur Höhle und entzündeten am Eingang ein Feuer. Alle dreihundertfünfundneunzig MacDonalds erstickten. Sir Walter Scott hat bei einem Besuch der Höhle im Jahr 1814 Knochen gefunden und einen als Souvenir mitgenommen. Später beerdigte man die Überreste an einem unbekannten Ort.
Nach dem Massaker dauerte es Jahrzehnte, bis Eigg von den Nachbarinseln aus neu besiedelt wurde. Deshalb beginnt die Geschichte der Bewohner erst im 17. Jahrhundert. Keiner kann seine Ahnentafel weiter zurückverfolgen als Angus McKinnon: Sie reicht bis ins Jahr 1650. Oben, am Rand der Klippen von Cleasdale, steht sein Haus. McKinnon ist zweiundsiebzig, hat dichte graue Haare und wirkt meist mürrisch. Er schimpft auf das Feudalsystem, er schimpft auf die neuen Zeiten.
»Nicht die Insel hat sich verändert, sondern das Leben auf der Insel. Früher geschah das allmählich, nicht so abrupt wie heute. Viele sind weggegangen, weil die Landbesitzer uns so miserabel behandelt haben. Als ich noch klein war, kam der laird manchmal, ohne anzuklopfen, ins Haus und schaute in den Kochtopf, um zu sehen, ob wir gerade eines seiner Schafe zubereiteten.« Später ist McKinnon auch weggegangen und hat es draußen zu etwas gebracht. Er besuchte die Oberschule in Inverness, studierte in Edinburgh und wurde Ingenieur. Als die Eltern alt waren und nicht mehr für sich sorgen konnten, kam McKinnon 1965 zurück und übernahm den kleinen Pachthof beim singenden Sand:
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