Lesereise Schweiz
Hosenträgern. Im rechten Ohr trägt er das Ohrschuefe , auf dem Kopf den schwarzen Fladenhut mit farbigen Bändern und Stoffblumen. Hinter ihm trotten die drei schönsten Kühe mit aufeinander abgestimmten Senntumsschellen, die an kunstvoll verzierten Riemen um den Hals baumeln. Den Abschluss bilden die Bauern, der Rest des Braunviehs, ein Pferdewagen mit den Alpgerätschaften und, zu guter Letzt, die Schweine. Ebenso prachtvoll wird die Alpabfahrt im Herbst zelebriert, wenn die Sennen mit ihrem Braunvieh Ende August von den Alpen ins Tal zurückkehren, um im Dorf zu überwintern.
Morgendämmerung am Säntis
Bergkäse ist kein Appenzeller
Um fünf Uhr früh ist es noch stockfinster auf der Schwägalp. Sie liegt so abgeschieden, dass man sie nur zu Fuß erreichen kann. Die Morgendämmerung zeichnet die Umrisse des Säntis-Massivs. Was für eine Stille! Außer dem dumpfen Kuhglockengebimmel und den Vogelstimmen ist nur das Rauschen des Tosbachs zu hören. Hinter einem Tannenwäldchen öffnet sich eine weite Bergweide. In der Ferne am Hang sind drei Hütten zu erkennen; eine muss die von Werner Meile sein.
Das »Obere Aueli« liegt auf zwölfhundert Meter Höhe. Senn Werner Meile verbringt hier oben jeden Sommer mit seinen Milchkühen, Ziegen und Schweinen, insgesamt hundertzehn Alptage. Der Milchbauer ist einer der wenigen im Appenzellerland, die noch an Ort und Stelle handwerklich verkäsen. Die meisten bringen das vielleicht vollkommenste aller Lebensmittel in Kannen zum Stand, wo es von den Tankwagen der über hundertzehn modernen Käsereien abgeholt und industriell zu vollfetten und viertelfetten Appenzeller Hartkäselaiben verarbeitet wird.
Werner Meile ist bereits in vollem Gange. Er hat die letzte Kuh schon um fünf Uhr gemolken. Auf den Beinen ist er seit vier. Achtzig Liter Milch köcheln im kupfernen Käsekessi , und Meile heizt ihm mit alpeigenem Tannenholz kräftig ein, dass das Feuer knistert und kracht. Auf zweiunddreißig Grad muss sich die Milch erwärmen, damit er sie fermentieren, »einlaben«, kann. Der Senn legt noch einen Scheit drauf.
Die Begrüßung durch den Alpbauern in Senntracht fällt wortkarg aus. »Ich bin kein Schausteller«, stellt der Mann unumwunden klar. Er empfindet die beiden Besucher als Eindringlinge in seine Privatsphäre, in die selbstgewählte Isolation. Seine braune Ladenhose aus Halbleinen mit den kunstvoll beschlagenen Hosenträgern ist für ihn kein folkloristischer Touristengag, sondern sennisches Selbstverständnis, Bestandteil einer – seiner – Lebensform. Zuschauer, die ihm in seiner rund zehn Quadratmeter großen Käserei im Weg stehen und dumme Fragen stellen, stören sein Tagewerk. »Für mich ist das Alltag hier«, sagt Meile im appenzellischen Dialekt. Hochdeutsch kommt ihm nicht über die Lippen. »Ich gehe auf die Alp, um meine Ruhe zu haben.« Spricht’s und verschwindet im Nebenraum.
Den zweiten Raum der zweihundert Jahre alten Sennhütte erhellt der anbrechende Morgen, der sein zaghaftes Licht durch das Fenster in die Stube wirft. Meile kommt ohne Strom und Telefon aus. Er hat alles, was er zum zfredenen Bergleben braucht: Bett, Tisch, Ofen, Transistorradio, seine Tiere und die ungetrübte Natur – rustikal, bescheiden, naturverwandt. Meile sitzt mit dem Zusenn am Tisch, trinkt Kaffee. Unaufgefordert setzen wir uns dazu. Das Gespräch verläuft schleppend. Er hadert noch, aber schließlich bietet er den Gästen doch einen Kaffee und sogar ein Gipfeli an. Das Eis beginnt zu brechen.
Der Alpkäser weiß, dass er einen aussterbenden Beruf ausübt. »Es gibt Städter, die glauben fest daran, dass die Milch aus dem Tetrapack kommt«, spöttelt er, während er das ausgerauchte Landauerli mit dem Kopf nach unten dreht und es in den Mundwinkel rutschen lässt, wo es hingehört. Unentbehrlich für einen Appenzeller Sennen, wie auch der Ohrschuefe in seinem rechten Ohr und der Senntumsschmuck auf den Hosenträgern.
Wortlos verlässt der Zusenn die Hütte. Er geht auf die Wiese, um Kuhfladen zusammenzutragen: Hygiene und Maßnahme gegen Überdüngung. Inzwischen hat die Milch die erforderlichen einunddreißig Grad erreicht. Damit sie gerinnt, gießt Meile jetzt Lab und Milchsäurebakterien dazu, die mit der Schuefe , einer breiten Holzkelle, untergerührt werden. Früher hat man getrocknete Kälbermägen in Säckchen eingenäht, ins Kessi gehängt und die gleiche Wirkung erzielt. Die Temperatur muss konstant sein, »damit die Bakterien ordentlich schaffen
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