Lesereise Schweiz
können, damit sie sich richtig wohl fühlen«, erklärt der Senn.
Nach dreißig bis vierzig Minuten hat das Ferment die Milch verdickt. Sie sieht jetzt aus wie Vanillepudding. Das Vorkäsen beginnt. Meile greift zur Käseharfe, einem etwa einen Meter langen Schnittgerät mit Stahlsaiten, und durchschneidet mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen die Masse. Dann nimmt er die Grotze zur Hand, die etwa fünfzig Zentimeter lange geschälte Krone eines Tannenbäumchens, und rührt vorsichtig weiter, bis alles auf Maiskorngröße zerkleinert ist.
Zum Käsen setzt er dann ein Eisengestell mit einem Rührer auf den Rand des Kessis . Meile hat ihn aus dem Motor eines ausgedienten Scheibenwischers selbst gebaut und an eine Autobatterie angeschlossen. »Not macht erfinderisch«, sagt er nicht ohne Stolz. Während die Temperatur auf einundvierzig Grad steigt, beginnt der Käserührer sein Werk. Feste und flüssige Bestandteile trennen sich: Der Käsebruch setzt sich auf dem Boden ab, die Molke schwimmt oben. Meile spaltet noch ein paar Holzscheite und legt sie aufs Feuer.
Unterdessen werden andere Aufgaben erledigt. Meile steht nie still. Er greift zum Besen – Reinlichkeit ist oberstes Gebot. Er wäscht Schüsseln und Kannen, trocknet sie und stellt sie an ihren festen Platz zurück. Zwischendurch überprüft er die Temperatur im Kessi , bereitet den nächsten Vorgang vor. Denn Meile ist Käser, Hausmann und Tierpfleger zugleich. Abläufe und Handgriffe sind straff durchorganisiert, jede Unregelmäßigkeit geht zu Lasten des Endprodukts. Und das ist ihm heilig.
Mit der Sterilität blitzenden Stahls und Hightech-Anlagen hat der leidenschaftliche Senn nichts im Sinn. Die alten Holzgeräte, mit denen die Käser früher arbeiteten, stehen noch im Raum herum. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie alle benutzen. »Die modernen Vorschriften sind übertrieben«, sagt er überzeugt. An seinem Käse sei er ja auch noch nicht gestorben. Aber man »sollte« das Holzgeschirr aus hygienischen Gründen nicht mehr benutzen. Das schreibt die seit 1942 über die Qualität wachende »Geschäftsstelle für den Appenzeller Käse« vor. »Die Betonung liegt auf sollte«, lacht Meile. Regelmäßig besucht ihn ein skeptischer Kontrolleur, um zu prüfen, ob bei dem Outlaw-Käser auch wirklich alles mit rechten Dingen zugeht.
Den strengen Maßstäben des in alle Welt exportierten Appenzeller Käses kann er nicht genügen. Nur die Käselaibe, die den laufenden Kontrollen von Lochbildung, Teig, Farbe, Äußerem und Aroma durch den Inspektor der Geschäftsstelle passiert haben, gelangen als Appenzeller zum Konsumenten. Schon ein winziges Rußpartikelchen, das vom offenen Feuer ins Kessi fliegt, kann dem echten »Appenzeller« den Garaus machen. Deshalb darf Meile seinen Käse nicht so nennen. Natürlich will er das auch gar nicht, wie er auch sonst die Normen nicht erfüllt: Statt des von der Geschäftsstelle geforderten Gewichts von sieben Kilo wiegt sein »Bergchäs« nur viereinhalb Kilo, statt des normierten Durchmessers von dreißig Zentimetern messen seine Käselaibe nur achtundzwanzig Zentimeter. Mit dem industriell gefertigten Käse will er nicht konkurrieren. Er ist stolz auf seinen eigenen, und er verkauft nur an privat.
Die Käsemasse im Kessi muss richtig griffig sein. Der Senn greift hinein und presst einige Körner in der Hand zusammen. Er ist zufrieden. Jetzt kommt der große Moment: Die Käsemasse wird gehoben. Mit Hilfe eines Stahlbogens führt Meile das Käsetuch unter der Masse durch, bindet das Tuch zusammen und hakt es an einen Flaschenzug. Über die Winde zieht er den schwergewichtigen Kloß aus dem Kessi , lässt die Molke abfließen, schwingt ihn über einen hölzernen Kasten und lässt ihn hinab. Die Masse wird verteilt, in fünf gleiche Teile geschnitten, mit Käsetüchern umwickelt, in Formen gefüllt und gepresst, damit sie trocken wird.
Die Ausbeute von einem Kessi mit achtzig Litern Milch liegt bei fünf Laiben à viereinhalb Kilo vollfettem Bergkäses, und das jeden Tag. Ein hartes Geschäft, wenn man davon leben wollte. Ohne die Alpungsbeiträge gäbe es längst schon keine Alpwirtschaft mehr, meint er. Dennoch ist er froh, dass die Schweizer gegen den Beitritt zur Europäischen Union stimmen: »Die von der EU wissen eh nichts davon, wie es funktioniert.«
Mitten durch den Käsekeller fließt ein Gebirgsbach, der nur zwei Grad hat. Die Hütte wurde extra über ihn hinweg gebaut, damit die fertig gepressten
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