Lesereise Sizilien
heilige Rosalia bis heute nicht zur Ruhe. Jedes Jahr am 15. Juli wird der zentnerschwere Glassarg mit der Skulptur der Heiligen durch die Stadt transportiert. Sogar die Porta Felice, das Prunktor zum Hafen, durften die Bürgermeister nicht wie eigentlich vorgesehen mit einem Bogen überspannen, damit der turmhohe Wagen mit der Statue der Heiligen an ihrem Feiertag auch bequem durchfahren kann. Die Prozession der heiligen Rosalia zählt zu den spektakulärsten Feierlichkeiten der Insel. Obwohl es genau so wirkt, ist das Rosalia-Fest keine künstlich am Leben erhaltene Folkloreveranstaltung für Touristen. Rosalia ist so echt wie die Tränen der alten Frauen in Schwarz, die sich bekreuzigen, Rosalia die Hände entgegenstrecken, als könnte sie ihr Leid mindern, und auf ihren müden Beinen die Prozession begleiten. Zu Ehren Rosalias kleidet sich die Stadt in Festtracht. Die Straßen sind kunterbunt geschmückt, die Menschen geraten reihenweise in Ekstase. Kreischen, Knallkörper, Kirchenglocken, Blechmusik. Frauen und Männer lächeln selig, schwenken Fächer durch die Luft. Es ist heiß, die Menschen stehen dicht, niemand stört sich daran. Alle Augenpaare hängen gebannt an dem Schrein. Tausende Hände schlagen das Kreuz. Weihrauch hängt über der Stadt, dazu mischt sich ein Schwall Parfum, Schweiß, vom Hafen weht es fischig herüber.
Rosalia war nicht die erste Dame, die Palermo vor der Pest schützen sollte, zuvor war eine gewisse Cristina zuständig gewesen. Doch als deren wundertätige Kräfte nachließen und die Seuche weiterwütete, sah man sich nach Ersatz um. Rosalia kam da gerade richtig. Versuchen wir es doch einmal mit einer anderen Schutzpatronin, dachte man sich. Schließlich müssen auch Heilige ergebnisorientiert arbeiten. Seit die Pest vorbei ist, ist Rosalia für alle Anliegen zuständig.
Siziliens Festkalender bestimmt die Religion – offiziell, doch die heidnischen Wurzeln sind unverkennbar. Jede Stadt, jedes Dorf hat einen eigenen Schutzheiligen, der mindestens einmal im Jahr gebührend gefeiert werden muss. Die Heiligen werden auf starken Schultern durch die Straßen getragen, kreuz und quer durch die Stadtviertel, sie haben sich’s auch verdient.
Sakrales mischt sich mit Showeffekten, die Figuren, die immerhin schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel haben, werden farbig aufgepeppt. Hier ein bisschen mehr Rot für den Blutstrom, dort die leidgeprüften Gesichtszüge noch ein bisschen tiefer.
Die Karwoche und Ostern werden an vielen Orten mit Prozessionen und Mysterienspielen gefeiert. Ostern bedeutet Tod und Leben, Schmerz und Freude. Karfreitagsprozessionen sind ein Erbe der spanischen Besatzungsmacht und erinnern an die Inquisition, als maskierte Männer die Todgeweihten auf dem Weg zum Scheiterhaufen begleiteten. Besonders wild geht’s in Prizzi zu. Dort ziehen die Dämonen aus der Unterwelt, eine Gruppe junger Männer in roten Kutten mit Teufelsmasken, durch den Ort, um die Menschen in Versuchung zu führen. Am Ende siegt das Gute. Hier wird der uralte Kampf zwischen Gut und Böse wieder aufgegriffen, ähnliche Spiele gibt es auch in San Fratello. Während der Karwoche kleiden sich die Männer des Ortes in bunte Kostüme. Sie verbergen sich unter roten Masken, binden Schwänze an die Kostüme und verlängern die Zungen mit Lederstücken. Dann posaunen und klappern sie vom frühen Morgen bis zum Beginn der Prozession. Bei dem Höllenlärm läuft vermutlich jeder Teufel davon, so schnell ihn seine Füße tragen …
In Calatafimi halten die Handwerksmeister Ehrenwache am Grab Christi, in der linken Hand eine Kerze, in der rechten eine Lupara. In Caltanissetta ziehen die Ortsbewohner an Gründonnerstag mit doppelt lebensgroßen Figuren aus Pappmaché auf herrlich geschmückten Prozessionswagen mit Feuerwerk durch die Straßen. Am Tag darauf knien schwarz gekleidete Frauen auf den Gehsteigen und bitten um Ablass der Sünden, wenn der Gekreuzigte vorbeigetragen wird. In San Martino delle Scale bei Monreale fangen die Einheimischen den ganzen Winter über Tauben oder Spatzen und stecken sie in kleine Käfige, am Ostermontag schenken sie ihnen die Freiheit und lassen sie fliegen. In der Nacht zum Ostersonntag werden in Trapani die »Mysterien« aufgeführt, bei flackerndem Kerzenlicht, Ölleuchten und mystischem Gesang wird der Leidensweg Christi nachempfunden. Die feierliche Prozession dauert zwanzig Stunden, Zehntausende Gläubige und Schaulustige säumen die Straßen.
Selbst zu
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