Lesereise Sizilien
Allerseelen wird auf Sizilien nicht getrauert, sondern gefeiert. In der Nacht zum 2. November warten Kinder auf die Seelen der Toten, die dann die Friedhöfe verlassen und Geschenke und Süßigkeiten mitbringen.
Und wenn einmal partout kein christlicher Vorwand für ein Fest gefunden werden kann, prüft man die heidnischen Götter auf ihre Festtauglichkeit. Enna feiert am 2. und am 15. Juli den Kult der antiken Göttin der Fruchtbarkeit – im Namen der Madonna. Über zweihundert einstmals nackte Männer, die nach Intervention der Kirche mittlerweile ein Hemd tragen müssen, begleiten die Prozession. In Messina werden am Tag vor Mariä Himmelfahrt zwei riesige Statuen vom tanzenden, jubelnden und singenden Volk herumgetragen, die männliche Statue, Grifone, ist ein Schwarzer, die andere, Mata, eine Weiße. Die beiden Statuen erinnern an die Befreiung von der arabischen Herrschaft. Zusätzlich ziehen Barfüßige einen Wagen mit der Marienstatue durch die Straßen. So feiert die Stadt Messina als Ort des Aufeinandertreffens der christlichen und heidnischen Welt ihre Gründung.
Wenn auch beim besten Willen keine heidnische Hilfe in Sicht ist, dann muss eben die Natur herhalten. Beim Schwertfischfest in Acitrezza spielen Fischer die Jagd auf einen Schwertfisch nach, Agrigent feiert in der ersten Februarwoche die Festa del Mandorlo in Fiore, das Fest der Mandelblüte. Ein unvergessliches Ereignis vor der Kulisse der antiken Tempel inmitten blühender Mandelbäume.
Pasquale Amico aus Catania hat wenig Zeit zum Feiern. Wenn andere durch die Straßen ziehen, hockt er in seiner Werkstatt und macht Puppen. So trägt er seinen Teil zum Erhalt der Traditionen bei. Er stellt typische Marionetten her, die echten. Nicht die nachgemachten, serienmäßigen, die an den Souvenirshops zwischen falschen Korallen, auf alt getrimmten, bunt bemalten Karren, Videokassetten mit Lava-Ausbrüchen, Ketten aus Rosenquarz und Ansichtskarten mit der Aufschrift »I love Sicilia« traurig und leblos an ihren Schnüren baumeln. Die sizilianischen Ritter des Puppentheaters sind inzwischen zu einem Wahrzeichen der Insel geworden. Früher, in Vor-Fernseh- und Vor-Internet-Zeiten, zogen Geschichtenerzähler, cantastorie, mit ihren Puppen von piazza zu piazza und unterhielten die Menschen mit ihren Rittergeschichten. Da kämpften Riesen gegen Drachen, Zauberer gegen Ungeheuer, Kreuzritter gegen Muselmanen, Gut gegen Böse. Zwischendurch schmachtete auch mal ein Prinz seine Angebetete an. Für musikalische Untermalung sorgte eine Drehorgel, so belebten die cantastorie auch die Volksmusik der Insel. Das Publikum beteiligte sich tausendstimmig am Geschehen. Opera dei Pupi nannte man dieses Bretterbudenspektakel, das bis in die fünfziger Jahre am Leben blieb. Künstler auf der ganzen Insel wetteiferten um die schönsten Figuren. Es war Schwerstarbeit, den bis zu einem Meter großen beweglichen Marionetten inklusive Ritterrüstung über Drahtseile Leben einzuhauchen. In die Krise gerieten die Ritterspiele, als das Fernsehen kam. Die pupi hängen inzwischen im Museum und gehören seit 2001 zum »immateriellen Weltkulturerbe« der UNESCO . Mimmo Cuticchio ist der Letzte, der die Tradition der cantastorie noch fortsetzt. In seinem Teatro dei Pupi in Palermo inszeniert er mit seinen Puppen »Tosca« und »Odysseus Reise«, mit bewundernswerter Fingerfertigkeit bewegt er die schweren Figuren. Auch wer kein Wort versteht, versteht intuitiv.
Giovanni Matera in Palermo gehört ebenfalls zu den Handwerkern, die der Tradition treu geblieben sind. Seine Krippenfiguren der presepi sind im Ethnografischen Pitré-Museum ausgestellt und sogar im Deutschen Museum in München zu sehen. Neben den großen Werkstätten in Santo Stefano di Camastra, Caltagirone oder Collesano gibt es auch noch ein paar vereinzelte wackere Töpfer, die auf der durch ein Pedal betriebenen hölzernen Töpferscheibe arbeiten, wie sie von Homer in der »Ilias« beschrieben wurde. Die künstlerischen Wurzeln der Töpferei gehen zurück auf die griechische Vasenmalerei, vereinen raffinierte Ornamente und Glasur der Araber. Kunstschmiedearbeiten, die in der Zeit des Liberty besonders en vogue waren, haben sich rund um den Ätna erhalten. Trapani brachte die Korallenbearbeitung jahrhundertelang Ansehen und Reichtum, heute erlebt sie wieder einen regelrechten Boom. Ähnlich wie mit den Marionetten verhält es sich mit der sizilianischen Handarbeit. Die Deckchen und Tücher, die die Souvenirstände
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