Lesereise Sizilien
sich über den feinen schwarzen Staub, der sich in ihren frisch gewaschenen Haaren festsetzt, ihre weiße Bluse beschmutzt, in den Zähnen knirscht, in Ohren und Nase kratzt. Die Bewohner von Linguaglossa handeln. Reine Routine, wenn man schon nach einer Lavazunge benannt ist. Sie holen eilig den heiligen Sant’ Egidio aus der Kirche und stellen ihn unter einem weißgoldenen Baldachin im Freien auf, mit dem Gesicht zum Berg. Schon einmal, 1923, hat der Glutfluss dort angehalten, wo die Bürger den Heiligen aufgestellt hatten. Vielleicht hilft es auch diesmal? Die Legende berichtet tatsächlich immer wieder von kleinen Ätna-Wundern. Mal blieb die Lava vor einer Madonna stehen, mal umging sie eine Kirche, mal reichte schon der Schleier der heiligen Agata, um die heranrückende Bedrohung zu stoppen. Bei so viel Wunderbarem hat der Schicksalsberg der Insel auch eine hohe Anziehungskraft auf Gläubige und Scharlatane, die ihre Dienste als Wahrsager oder Kartenleger anbieten.
Die Vulkanologen sorgen sich. Sie befürchten, der Ätna könnte sich von einem vulcano buono, der ab und zu weit ab von Siedlungen feurig seine Muskeln spielen lässt, in einen gefährlichen Feuerberg verwandeln. Sie fürchten, dieser Ausbruch könnte der Anfang gewesen sein.
Es ist Oktober 2002. Das Monster hat sich am 27. Oktober zurückgemeldet. Fauchend, zischend, wild um sich spuckend, mit dröhnenden Explosionen, Lavafontänen, die bis zu dreihundert Meter in die Luft schießen, dunklen Aschewolken. Mit gefährlichen Lavaströmen und gewaltigen Erdbeben im Abstand von wenigen Minuten, die die Menschen an den Abhängen des Ätnas in Panik versetzen. Ganz plötzlich spürt man ein leichtes Schwanken, gerade so, als hätte man ein Gläschen Wein zu viel getrunken. Einige Sekunden lang bewegt sich der Boden unter den Füßen, Fensterscheiben klirren, Lampen und Bilder an den Wänden wackeln und die Hunde fangen an wie wild zu jaulen und zu bellen.
»Es war ein gewaltiges Beben. Die Wände wackelten eine schier endlose Zeit«, sagt Enrico Pappalardo, Bürgermeister von Santa Venerina. Den am Osthang des Ätna gelegenen Ort hat es diesmal richtig schlimm erwischt, er wurde durch die Erdstöße schwer beschädigt, mehrere Menschen verletzt. Die Erdstöße sind das schlimmste Übel. Sie machen den Menschen Angst. Lassen Häuser einstürzen, vor allem alte Gebäude wurden diesmal stark beschädigt. In den Straßen klaffen große Risse im Belag und Böschungen sind einfach weggesackt. Selbst die Seitenwände angeblich erdbebensicherer Neubauten, nach antiseismischen Kriterien gebaut, geben der Naturgewalt nach. Hunderte Menschen werden obdachlos, der Zivilschutz stellt hundertsechzig Wohnwagen zur Verfügung. Die Menschen wollen nicht in ihren Häusern bleiben, haben Angst, die Mauern könnten über ihnen einstürzen. Mehr als Stärke vier auf der Richterskala erreichen einige der Beben – eine ungewöhnliche Heftigkeit. Deshalb vermuten einige Experten, dass die Erdstöße nicht nur mit dem Vulkanausbruch in Zusammenhang stehen, sondern auch mit der Bewegung der afrikanischen Platte, die bei Sizilien unter die eurasische Platte abtaucht.
Nach dem Beben und dem Feuer kommt die Asche. Je nachdem, in welche Richtung der Wind sie trägt, verdunkelt sich der Himmel so sehr, dass in manchen Orten auch tagsüber die Straßenlaternen eingeschaltet bleiben müssen. Die Sicht auf den Straßen in manchen Berggemeinden an der Ostflanke des Ätna beträgt nur wenige Meter, auf der Autobahn am Fuß des Feuerbergs stellenweise nur fünfzig Meter. Der Flughafen von Catania muss tagelang geschlossen bleiben. Und im Ascheregen von Sizilien warten alle auf das nächste Grummeln des Vulkans.
Der dreitausenddreihundertfünfzig Meter hohe Vulkan in der Gestalt eines riesigen Kegels liegt rund fünfundzwanzig Kilometer nordnordwestlich der Stadt Catania. Er ist Teil einer Feuerlinie, entlang der sich die Kontinentalmassen Europas und Nordafrikas als schwimmende Schollen gegeneinanderschieben. Das Gebiet um den Ätna herum ist dicht bevölkert, im direkten Einflussgebiet des Vulkans leben etwa hunderttausend Menschen. Ein Ausbruch des aktivsten Vulkans Europas wurde erstmals im 18. Jahrhundert vor Christus registriert, doch zeigen geologische Studien, dass er schon vor dieser Zeit aktiv gewesen ist. Seitdem ist es zu etwa neunzig Ausbrüchen gekommen. Der verheerendste, bei dem die Stadt Catania zerstört wurde und fünfzehntausend Menschen starben, ereignete sich 1169
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