Lesereise Sizilien
nicht mal mehr, wo er seinen Sonnenschirm lassen soll. Man muss höllisch aufpassen, nicht auf fremde Badetücher zu treten. Die Massen sitzen unter den Sonnenschirmen auf ihren leinenbezogenen Liegepolstern, versuchen zwischen den Köpfen der Vordermänner ein bisschen aufs Meer zu gucken, lösen Kreuzworträtsel, lesen Schundromane. Ein paar brutzelbraune Strandwächter mit verwegenem Lächeln, immer zu einem kleinen Flirt aufgelegt, irren durch die Liegestuhlreihen und lassen beim Sonnenschirmaufstellen auf den muskulösen Oberarmen die Tatoos hüpfen. Wo noch Platz ist, stehen Bretterbuden, an denen man granita oder afrikanischen Schmuck kaufen kann. Davor Jungs mit breiten Schultern und Häkelkäppis, die Tagesausflüge anpreisen, oder Nordafrikaner die mit lautem »cocobello!« frische Kokosnüsse spazieren tragen. In der Luft liegt eine Mischung aus Sonnenöl, pizza und Meeresgeruch.
Knackigbraune Schönheiten zupfen ihre Oberteile zurecht, ihre grau melierten Begleiter ziehen den Bauch ein. Glücklich, wer sein Schlauchboot zu Wasser lassen, Kühlbox und Radio einpacken und davontuckern kann. Sonst gibt’s jede Menge Kieselstrände, die meisten kosten nichts. Ein paar Kiesbänke, die nahe an der Straße verlaufen, wo man zwischen Fischerbooten liegt und mit dem Sonnenschirm kämpft, weil der zwischen dem Kies nicht stecken bleiben will oder die Luftmatratze unter einem spitzen Stein ihren Geist aufgibt. Außerdem pieksen die Steine beim Gang ins Wasser.
Der mondäne Badeort Mondello war noch vor einer Generation ausschließlich den Palermitanern vorbehalten, heute hat er internationales Flair, steht im Prospekt. Will heißen, ist rammelvoll mit Urlaubern. Marzamemi hat sich zum Lieblingsziel der jugendlichen Touristen entwickelt. Was bedeutet, dass das Wasser vor lauter Wassersportlern zu einer unberechenbaren Gefahrenquelle wird. An den kilometerlangen Stränden von Taormina Giardini-Naxos und Letojanni reihen sich Sonnenschirme und Liegestühle dicht an dicht. Wegen Überfüllung geschlossen. In Agrigento tobt das Leben, am nächsten Morgen schlafen sich viele am Strand von San Leone aus. Bei Catania erstreckt sich Richtung Süden ein kilometerlanger Sandstrand. Allerdings macht sich bemerkbar, dass der Hafen nicht weit ist. Die Wasserqualität …
Es kommen immer mehr. Scharen sich um uns. Immer enger. Breiten sich aus. Uns wird’s langsam, aber sicher zu viel und zu laut. Wir packen unsere Sachen zusammen, balancieren am Rand von Badetüchern zu unserem Fiat Punto und holpern zurück ins Hotel – ab in den Swimmingpool.
Stumme Geschwätzigkeit
Von der Sprache der Hände
Die Sizilianer gelten als das schweigsamste Volk der Welt. Das ausgesprochene Wort ist etwas Gefährliches auf einer Insel, auf der omertà, das Gesetz des Schweigens, herrscht. So hat man im Laufe der Jahrhunderte die Sprache der Blicke und der Gesten perfektioniert. Die Sprache der Insel konnten die Eroberer erlernen, die der Gesten und Blicke nicht. Schon im alten Syrakus, als der Tyrann Dionysios sein großes Ohr überall hatte –, wie man in Syrakus in Stein verewigt noch sehen kann – verkehrte man sicherheitshalber nonverbal. Es gibt eine alte sizilianische Geschichte: Zwei Männer werden verhaftet. Um sich nicht absprechen zu können, werden sie getrennt gehalten und in zwei weit auseinanderliegende Gefängniszellen gesteckt. Am Tag vor der Gerichtsverhandlung werden sie dem König vorgeführt. Neben dem König steht ein Minister, ein Sizilianer. Auf einmal sieht er, wie sich die beiden Männer auf dem Weg zum König einen kurzen Blick zuwerfen. Der Minister schreit los: Es hat keinen Zweck, sie haben sich abgesprochen! Ohne ein Wort zu sagen, nur mit einem einzigen Blick haben die Sizilianer festgelegt, welche Geschichte sie erzählen werden.
Es gibt aber auch noch einen weiteren Grund für die Gestensprache: Sizilianischer Dialekt unterscheidet sich von Ort zu Ort. Manchmal bedeutet ein Begriff in einem Ort etwas völlig anderes als in dem nächsten, die Gestensprache dagegen funktioniert dorfübergreifend. Einmal mit der Zunge kurz an der Rückseite der Schneidezähne zu schnalzen bedeutet Nein, in Taormina wie im finstersten Nest im Landesinneren. Von entscheidender Bedeutung ist auch die Betonung, die aus einem Lob eine handfeste Beleidigung machen kann und umgekehrt. Sprachrhythmus, Pausen, alles zusammen macht Sinn oder Unsinn einer Botschaft aus.
Auch die Mafia braucht nicht viele Worte, um ihre Nachrichten zu
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