Lesereise Tschechien
Abendmahl nicht nur in Form der Hostie empfingen, sondern auch als Wein im Kelch. Dies war in der katholischen Kirche den Priestern vorbehalten, während die Reformer »den Laienkelch« propagierten und überhaupt den Laien mehr Gewicht gaben. Um weitere liturgische und soziale Fragen kam es in der Bewegung bald zu erbittertem Streit und letztlich zum Krieg. Eine Gruppe Radikaler gründete 1420 auf einem Felsberg bei Sezimovo Ústí, neunzig Kilometer südlich von Prag, eine Stadt und nannte sie Tabor. Der Name war dem Evangelium entliehen, vom heiligen Berg Tabor in Palästina, auf dem der Religionsstifter Jesus seinen Jüngern erschienen sein soll. Diese »Verklärung des Herrn« gab der Hauptkirche der neuen Siedlung ihren Namen, und einen Teich, den sie anstauten, nannten sie Jordan. So heißt er bis heute.
Tabor, die Stadt auf dem Berg, wurde mit schweren Schanzen befestigt und hielt so mancher gegnerischen Belagerung stand. Die Bewohner schafften das Privateigentum ab, weshalb sie später in der kommunistischen Periode der Tschechoslowakei als Frühsozialisten glorifiziert wurden. Bilder, Reliquien und Heiligenfiguren taten sie in den Bann, ihre Sexualmoral war streng, man lebte in Armut und Einfachheit. Der wichtigste Heerführer der Taboriten war der einäugige Haudegen Jan Žižka, den der Mythos der Unbesiegbarkeit umwehte. Auf dem Hauptplatz von Tabor grüßt er als trutzige Reiterstatue, ebenso im gotischen Rathaussaal. Auch Žižka ist einer der Heroen der Nation. Wann immer sich die Tschechen bedroht fühlten, zum Beispiel im 19. Jahrhundert und in der Nazizeit, strahlte sein Stern wie der von Jan Hus besonders hell.
Es ist deshalb berechtigt, wenn Jakub Smrčka, der bärtige junge Direktor des Taborer Hussitenmuseums, von einem »zweiten Leben des Hussitentums in Tradition und modernem Nationalbewusstsein« spricht und dies auch in der neuen Dauerausstellung zum Ausdruck bringt. Das Museum, noch weit über die Wende von 1989 hinaus der kommunistischen Geschichtsinterpretation verhaftet, wurde völlig neu gestaltet und offeriert seit Ende 2010 nicht nur Erwachsenen, sondern gezielt auch Kindern und Jugendlichen einen modernen Zugang zum Stoff. Man bietet »weniger Text und mehr Bild und Erlebnis«, wie Smrčka sagt. Weshalb es vorkommt, dass Schüler mit großem Eifer ein Kettenhemd anprobieren, das an zwei Lederschlaufen schwer von der Decke hängt, und einander mit Fotohandys in dieser kriegerischen Montur ablichten.
Rund achtzigtausend Besucher hat das Museum jährlich, zu gut zwei Dritteln Tschechen. Die Beschriftungen sind meist tschechisch, der neue Katalog hat auch eine englische Version, Informationen in fünf weiteren Sprachen sollen folgen. Dass Tabor auch für Ausländer von hohem Reiz ist, steht außer Frage, schon wegen der Bedeutung der Hussiten bis in die Gegenwart. Dabei hat ihre religiöse Botschaft nur noch geringe Durchschlagskraft, die Tschechen sind überwiegend ungläubig. Nur vier der zehn Millionen Einwohner haben eine Konfession, 2,7 Millionen sind Katholiken, rund hundertzwanzigtausend gehören zur evangelischen Kirche der böhmischen Brüder, die auch taboritische Traditionen pflegt. Nur hunderttausend, also ein Prozent der Bevölkerung, sind Mitglieder der 1920 wieder gegründeten Hussitischen Kirche. Sie spielt im öffentlichen Leben kaum eine Rolle, im Jahr 2007 erregte ein Bischof Aufsehen, als er wegen eines Sexskandals zurücktreten musste. In Tabor steht die 1939 errichtete hussitische Kirche an einer umlärmten Ausfallstraße der Neustadt, den superschlanken puristischen Turm krönt ein zweieinhalb Meter hoher Kelch.
Touristen verirren sich selten dorthin, sie spüren dem Geist des Hussitismus in der historischen Kernstadt mit ihren farbenfrohen restaurierten Bauten und ihren stillen Pflastergassen nach. Das Ambiente wirkt nicht geleckt und nicht museal, hier und da tritt auch ein bisschen Baufälligkeit hervor, der Lebensrhythmus hat die Langsamkeit der Provinz. Auf der Kaffeehaustreppe krault die unbeschäftigte Bedienung den Hund, gegenüber hat ein Tattoo-Studio eröffnet, in einem Hof zerschneidet eine Kreissäge die übersonnte Stille.
Jana Lorencová, die Leiterin des Amtes für Kultur und Fremdenverkehr, hat sich die Hebung der Service-Qualität zum Ziel gesetzt und wünscht sich, dass die Besucher nicht nur für einen langen Nachmittag von Budweis oder Prag herüberkommen, sondern auch mal ein paar Tage bleiben. Deshalb wird weiter am
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