Lesereise Tschechien
Klaus sich 2006 in einem halben Jahr vier Mal mit seinem polnischen Amtskollegen Lech Kaczyński. Dabei hob er, ohne die Übeltäter der Vergangenheit beim Namen zu nennen, die Gemeinsamkeiten von Tschechen und Polen hervor und sagte: »Beide Länder haben – mit ihrer historischen Erfahrung aus dem Kampf um Souveränität und nationale Identität, mit ihren Erfahrungen auch dessen, was Unterdrückung der Freiheit im Namen angeblich höherer Ziele bedeutet, mit ihrer Erfahrung eines Lebens in einem Land, das fremden Interessen folgte – dem heutigen Europa etwas zu sagen. Wir sind verpflichtet, uns gegen eine Entwicklung zu wehren, die droht, einige unglückliche Aspekte unserer Geschichte zu wiederholen. Wir dürfen uns nicht – wie einige unserer Vorgänger – in der Illusion wiegen, dass die Geschichte, wie wir sie seit einem Jahrtausend kennen, zu Ende ist und dass gerade wir für immer in einer sorglosen Harmonie und in brüderlicher Einigkeit mit allen leben werden.« Der letzte Satz enthielt auch eine Spitze gegen Václav Havel.
Europa ist als Kontinent nach Meinung des tschechischen Staatspräsidenten keine ethnische Einheit und kein kulturell homogenes Gebiet. Europa habe auch keine Identität – und brauche auch keine. Für den passionierten Liberalen sind Freiheit und Demokratie die zentralen Werte, und Demokratie ist seiner Meinung nach nur in einem Nationalstaat zu verwirklichen. Außerhalb definierter Grenzen existiere nämlich kein »demos«, kein Volk als Träger der Souveränität. Und selbstverständlich weist Klaus genüsslich auch auf die bekannten Demokratiedefizite im hierarchischen Aufbau der EU hin.
Dass er indes gerade dem Lissaboner Vertrag, der dieses Defizit doch lindert, so unnachgiebig seine Zustimmung verweigerte, wirkte auf seine Gegner ein wenig paradox. Klaus aber meinte, die EU -Reform werde die bestehenden Probleme nur vertiefen, das demokratische Defizit verschlimmern sowie »den Status unseres Landes verschlechtern und neuen Risiken aussetzen«. Europas Eliten seien dabei, hinter dem Rücken der Bürger »einen bürokratischen föderalen Superstaat zu formen«.
Mit solchen Äußerungen ist Václav Klaus zum Wortführer der Euroskeptiker und Marktradikalen in ganz Europa geworden, und just die Auseinandersetzungen um den Lissaboner Vertrag verschafften ihm international eine hohe Aufmerksamkeit. Er genoss sie und er tat, von einer Gruppe neoliberaler Senatoren mit einer Verfassungsklage unterstützt, das Seine, um den Prozess noch in die Länge zu ziehen. Am Ende aber musste er sich geschlagen geben, wenngleich er den EU -Regierungschefs immerhin eine Klausel abtrotzte, wonach die Charta der EU -Grundrechte den 1945/46 aus der Tschechoslowakei vertriebenen Ungarn und Sudetendeutschen nicht erlauben soll, ihre damals enteigneten Besitztümer zurückzufordern. Am 3. November 2009 wies das tschechische Verfassungsgericht in Brünn sämtliche Einwände der EU -Kritiker zurück, und binnen Stunden setzte Klaus am selben Tag seine Unterschrift unter den Lissaboner Vertrag – Fotografen waren zu dem Anlass nicht bestellt.
Klaus hat bei seinen europäischen Extratouren, auch wenn er allgemein bei seinen Landsleuten zu den beliebtesten Politikern zählt, keineswegs die Mehrheit der Tschechen hinter sich. In Umfragen traten sie überwiegend für die EU -Reformen ein und billigten auch nicht, dass Klaus im ersten Halbjahr 2009 für die Dauer der tschechischen EU -Präsidentschaft sich weigerte, auf dem Dach der Prager Burg neben der tschechischen Staatsflagge auch die gestirnte blaue Europafahne aufziehen zu lassen. Selbst in der früher euroskeptischen ODS verloren die Klaus-Anhänger massiv an Terrain, so stark, dass Klaus mit großer Geste schon im Winter 2008 sein Amt als Ehrenpräsident der Partei aufgab und bald darauf gezielt die Gründung einer neuen EU -kritischen Partei freier Bürger ( SSO ) beförderte. Der Parteichef war der Leiter eines von Klaus inspirierten Thinktanks, und zu den prominenten Mitgliedern zählten die beiden Söhne des Staatspräsidenten sowie einige seiner sonstigen Vertrauten. Die mehrheitlich europafreundlich gestimmten Tschechen aber ließen das Projekt kläglich scheitern. Bei der Wahl des EU -Parlaments im Juni 2009 kam die neoliberale Splittergruppe nur auf 1,26 Prozent der Stimmen, seither hat man nichts mehr von ihr gehört.
Václav Klaus indes nutzt unverdrossen die Möglichkeiten, die sein hohes Amt ihm für die Selbstdarstellung bietet.
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