Lesereise Tschechien
oder hält er noch viel größere Überraschungen bereit? Er will nicht aufhören, auf keinen Fall. »Solange meine Kräfte es erlauben, werde ich bestimmt in der öffentlichen Welt bleiben.«
Die Stadt auf dem Berge
In Tabor wird die Erinnerung an die große Zeit der radikalen Hussiten bewahrt
Auch wenn es kühl ist hier unten, auch wenn man sich bücken muss, auch wenn das Auge nichts findet als die gewölbten rauen Felswände und die schlichten Lampen – vielleicht ist es gerade hier, wo man eine Ahnung vom Gemüt der Tschechen bekommt. Von ihrer Widerständigkeit, ihrem Selbstbehauptungswillen, ihrem Eigensinn. »Dies ist einer der tiefsten Keller«, sagt Marta Kratochvílová. »Wir sind zwölf Meter unter der Erde.« Die dreiunddreißigjährige Angestellte des städtischen Museums hat uns fast eine halbe Stunde durch die Gänge geleitet, die sich unter dem historischen Hauptplatz der alten Stadt Tabor befinden.
An die vierzehn Kilometer lang war einst das dunkle Labyrinth, mit dessen Anlage schon bald nach der Gründung der Stadt im Jahre 1420 begonnen wurde. Man brachte sich hier vor Feinden und vor Feuersbrünsten in Sicherheit, man ließ hier auch das Bier reifen und lagerte Lebensmittel ein. Rund fünfhundertfünfzig Meter der Strecke sind heute wieder begehbar, im Terrain rund ums gotische Rathaus. Hier und da führen Seitengänge von unten in die Keller der umliegenden Häuser hinein.
Dass sich gerade die Stadt Tabor so sicherte, ist kein Zufall. Ihre Gründer waren militante religiöse Radikale, deren Taten in der Geschichte Tschechiens und Europas ihresgleichen suchen. Vor sechshundert Jahren haben sie nachhaltig auf das Schicksal des Kontinents eingewirkt. Es war die Zeit der ersten großen Glaubenskriege und der ersten europäischen Revolution, die Zeit der Hussiten.
Das südböhmische Städtchen Tabor, mit seinen eingemeindeten und neueren Teilen heute siebenunddreißigtausend Einwohner stark, hat davon einzigartige Zeugnisse vorzuweisen und stellt deshalb eine Attraktion für Kulturtouristen auch aus Deutschland dar. Jedes Jahr im Mai beginnt die Hussitensaison, mit Spielen, Konzerten und historischen Darbietungen, die bis in den späten Sommer hin dauern und im September in einem Massenaufzug kostümierter Laiendarsteller gipfeln.
Die folkloristische Wiederbelebung zielt auf eine Epoche, die für das nationale Selbstverständnis der Tschechen fundamental ist. Sie stand im Zeichen des Reformators Jan Hus (1370–1415), der mehr als hundert Jahre vor dem Deutschen Martin Luther die Autorität des Papstes in Frage stellte, seine Ablassgeschäfte, seinen weltlichen Besitz und seinen lasterhaften Klerus geißelte und nur die Heilige Schrift als Basis der Lehre gelten lassen wollte. Das Evangelium verkündete er nicht nur in Latein, sondern auch »in der Volkssprache«, in Tschechisch.
So wurde er zu einer Schlüsselfigur auch für die Entwicklung der tschechischen Sprache und zum Apostel der Selbstbehauptung gegen die Dominanz des Deutschen und der deutschsprachigen Prälaten, die damals im Königreich Böhmen die Kirche führten. Sie verfolgten ihn als Ketzer, und 1415 bezahlte Jan Hus seine Kühnheit auf dem Konzil von Konstanz mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen, obwohl ihm der Kaiser persönlich freies Geleit garantiert hatte. Hus’ Todestag, der 6. Juli, ist bis heute in Tschechien Nationalfeiertag.
Das sagt genug auch über den Stellenwert der Ära, die nun folgte. Die Anhänger des Meisters, man nannte sie Hussiten, entfesselten einen Aufruhr und überzogen nicht nur Böhmen, sondern auch die umliegenden Gebiete für siebzehn Jahre mit wilden Kriegen gegen alles Katholische. Ihre Siege verdankten sie nicht nur dem Glaubenseifer, der sie beseelte, sondern auch der Tatsache, dass sie geniale Heerführer besaßen und neue militärische Techniken anwandten. Rasch bewegten sie sich von Ort zu Ort, schoben ihre Kampfwagen zu Wagenburgen zusammen und setzten neben Dreschflegeln auch Schießpulver ein. Die Haubitze erlebte damals ihre Premiere, das Wort hat tschechischen Ursprung.
Im Taborer Hussitenmuseum ist im Nachbau ein Kampfwagen zu sehen, wehrhaft, mit großen Rädern und einer hölzernen Schutzwand gegen Angreifer. Es gibt dort auch ein fabelhaftes Modell einer Stadt, die von hussitischen Truppen belagert wird, samt Leitern, Steinschleudern und fahrbaren Türmen. Die Zinnsoldaten tragen Schilde, auf denen ein roter Kelch prangt.
Er war das Symbol der Hussiten, die in der Messe das
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