Lesley Pearse
war doch Ihr kleines Mädchen, das sie gerettet hat, oder nicht?«
Jetzt erst bemerkte Matilda, dass er zitterte und sein Gesicht aschfahl war. Aber die Möglichkeit einer Belohnung verdrängte das Mitleid, das sie verspürte. Sie schwankte und gab vor, beinahe in Ohnmacht zu fallen.
»Schauen Sie sie an«, meinte die Frau und fasste Matilda am Arm. »Sie hat einen furchtbaren Schock erlitten. Sie hätte getötet werden können.«
»Ich nehme sie mit ins Geschäft, damit sie sich hinsetzen kann«, entschied der Pfarrer schnell, und bevor Matilda etwas erwidern konnte, hatte er ihren Korb aufgehoben und sie in ein Textilgeschäft gebracht. Matilda war von Natur aus nicht ängstlich. Sie fürchtete sich vor nichts und niemandem, nicht einmal vor der Polizei, die sie des Öfteren von der Straße vertrieb. Aber als sie in den Laden geführt wurde und den langen, gebohnerten und polierten Korridor sah, riesige Berge von Wolle, Stöße von Baumwolle und hoch gestapelte Bettwäsche, verließ sie der Mut. Die elegant gekleideten Verkäuferinnen wichen erschrocken vor ihr zurück, die Assistentinnen verzogen missbilligend das Gesicht. Matilda wusste, dass sie für sie nur eine Bettlerin war, die wahrscheinlich sogar Läuse hatte, jedenfalls nicht die Person, die man in ein solch hochklassiges Geschäft hätte bringen dürfen. Ihr erster Gedanke war, einfach fortzulaufen. Sie glaubte nicht, dass sie ernsthaft verletzt war, und nicht einmal die verlockende Aussicht auf eine Tasse Tee und vielleicht einen Shilling als Belohnung waren eine solche Demütigung wert.
»Ich sollte nicht hier reingehen. Sie werden was dagegen haben, Sir«, flüsterte sie, aber falls er sie gehört hatte, ignorierte er ihre Worte geflissentlich. Er zog sie geradewegs durch das Geschäft, wo seine Frau, flankiert von zwei Verkäuferinnen, lauthals weinend dasaß und ihre kleine Tochter an die Brust gezogen hatte, als fürchtete sie, sie würde ihr nochmals entrissen. Der Pfarrer ließ Matildas Arm los.
»Hör auf zu weinen, Lily«, bat er tröstend. »Tabitha ist jetzt sicher, und wir müssen an das mutige Mädchen denken, das sie beschützt hat.« Er wandte sich zu Matilda um und winkte sie zu sich. »Schau, hier ist sie. Sie ist verletzt, und ich glaube, sie hat einen Schock.«
Matilda wusste nicht, was das Wort Schock bedeutete, zumindest nicht bis die Frau ihr Kind zu ihrem Mann hinüberreichte und Matilda stürmisch in die Arme schloss. Sie berührte sie nicht etwa nur sachte am Arm oder bot ihr die Wange zum Kuss hin, sondern es war eine impulsive, von Herzen kommende Umarmung.
»Meine Liebe, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich bin«, stieß sie hervor, während sie sich noch mit einem Taschentuch über das tränenüberströmte Gesicht wischte. »Ich hatte erst gemerkt, dass Tabitha fortgelaufen war, als ich einen Schrei von der Straße hörte. Ich rannte wie der Wind zur Tür, genau im richtigen Moment, um zu sehen, was du getan hast. Du musst mich für entsetzlich unhöflich und undankbar halten, weil ich meinen Engel seiner Retterin entrissen habe und direkt wieder ins Geschäft gelaufen bin. Was musst du bloß von mir denken?«
Matilda war so überrascht, dass eine richtige Dame sich herabließ, ihre Handlungen einem einfachen Blumenmädchen zu erklären und es auch noch umarmte, dass es ihr die Sprache verschlug. Wobei die Frau auch nicht wirklich eine Adlige zu sein schien. Sie hatte zwar eine angenehme, freundliche Stimme und bewegte sich sehr gemessen und vornehm. Ihr Kleid und Hut waren jedoch unauffällig, und Schmuck trug sie auch keinen. Eigentlich war sie in jeder Hinsicht unscheinbar, klein und dünn, mit schmalen, scharfen Gesichtszügen und glanzlosem braunen Haar unter ihrem Hut.
»Ich versteh schon, Missus«, entgegnete Matilda etwas befangen. »Sie waren um Ihre Kleine besorgt. Ich hoffe, ich habe sie nicht verletzt, als ich sie gepackt habe?«
»Sie hat nicht eine Schramme und ahnt nicht einmal, warum wir uns so erschreckt haben. Aber lass dich einmal ansehen, Liebes. Du brauchst eine Tasse Tee, und wir wollen uns um deine Verletzungen kümmern.«
Die nächsten fünf oder zehn Minuten erschienen Matilda wie ein Traum. Eine beinahe neidisch dreinschauende Verkäuferin reichte ihr eine Tasse mit sehr süßem Tee, und der Pfarrer stellte sich und seine Frau vor, als wäre Matilda eine Frau von Stand.
Er war Pfarrer Giles Milson, und seine Frau hieß Lily. Ihre Tochter Tabitha war gerade zwei Jahre alt
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