Lesley Pearse
sie alles nur träume. Aß sie wirklich gerade diese riesige Mahlzeit? Hatte sie tatsächlich eben ein richtiges Bad genommen? Durfte sie das saubere graue Kleid, das sie nun trug, ernsthaft behalten? Nur eines war ihr wirklich klar, nämlich dass das Haus der Milsons voller Wunder war. Aggie hatte einen Früchtekuchen aus dem Ofen genommen, der den perfekten, goldenen Kuchen vom Konditor in nichts nachstand. Als sie ihr Bad hatte nehmen sollen, war Matilda geschockt gewesen, denn sie hatte sich wirklich vollständig ausziehen und in die Wanne steigen sollen. Für sie war ein Bad bislang lediglich eine Wäsche von Kopf bis Fuß gewesen, wenn ihr Vater und ihre Brüder gerade nicht im Hause waren. Ihr Haar hatte sie immer unter der Wasserpumpe im Hof ausgespült. Hier hatte sie sich mit richtiger Seife waschen können, und anschließend hatte Aggie sogar Salbe auf ihre Schulter gerieben. Später war sie, beladen mit Lilys alter Kleidung, zurück in die Spülküche gekommen und hatte Matilda nicht nur ein Kleid gereicht, sondern auch einen Baumwollumhang, zwei Flanellpetticoats, Strumpfhosen und ein Paar Schuhe. Aggie hielt ihr sogar Unterwäsche hin. So etwas hatte sie noch nie getragen. Matilda fühlte sich wie eine richtige Dame. Sauber, wohlriechend und wunderschön.
Aggie schaute über ihre Schulter zu dem essenden Mädchen hinüber und verzog die Miene, als sie sah, dass Matilda nur das Messer benutzte, auf das sie das Essen mit den Fingern schob. Aber sie war jetzt sauber, ihr Haar glänzte wie Butter und hing offen auf ihre Schultern herab. Matilda war mit ihrem freundlichen Lächeln und jeglichem Mangel an Dreistigkeit ein hübsches Mädchen. Aggie hatte nicht einmal Läuse gefunden, obwohl sie sehr sorgfältig danach gesucht hatte.
Aggie war schon seit achtzehn Jahren Haushälterin im Pfarrhaus. Als die Milsons vor vier Jahren eingezogen waren, war sie alles andere als begeistert gewesen. Bislang hatte sie immer alles nach ihrem Gutdünken entscheiden dürfen und das Pfarrhaus geführt, als wäre es ihr eigenes Heim gewesen. Doch Lily Milson hatte all dies verändert. Erst als Aggie gesehen hatte, wie rührend Lily sich um Reverend Hooper kümmerte, als er krank geworden war, hatte sie ihre Meinung über ihre neue Herrin geändert. Aggie musste heute zugeben, dass sich Lily zu einer perfekten Pfarrersfrau entwickelt hatte. Sie unterstützte die Gemeindearbeit ihres Mannes mit ganzem Herzen und zeigte sich Menschen in Not gegenüber gütig und verständnisvoll. Keiner konnte Wogen besser glätten als sie. Sie hatte eine unendliche Geduld mit den schwierigen, wohlhabenderen Gemeindemitgliedern, die glaubten, den Pfarrer vollkommen vereinnahmen zu können, und arbeitete unermüdlich daran, das Pfarrhaus gemütlich und einladend werden zu lassen. Sie zeigte Aggie neue Haushaltskniffe und Rezepte.
Doch seit Tabithas Geburt hatte sich etwas an Lily verändert. Trotz überschäumender Freude an ihrer Tochter war sie oft ängstlich und launisch wie das Wetter, einmal freundlich und bedacht, dann wieder widerspenstig. Aber am schlimmsten war ihre übertriebene Angst vor Krankheit. Sie schien zu glauben, dass die Kleine so empfindlich war, dass eine gewöhnliche Hausfliege im Stande wäre, sie umzubringen. Aggies Ansicht nach wurde Tabitha zu stark behütet. Von morgens bis nachts wurde ein Spektakel um das Kind veranstaltet, und das war ihrer Meinung nach um einiges ungesünder als ein bisschen Schmutz.
»Reverend Milson und seine Frau möchten dich jetzt sehen«, erklärte Aggie. Gern hätte sie sich für ihr anfängliches unterkühltes Verhalten entschuldigt. Doch es war nicht ihre Art, Dinge zurückzunehmen, und außerdem würde sie das Mädchen nie mehr wiedersehen. »Verhalte dich also manierlich. Und sag bloß nicht Missus zu ihr. Es heißt Madam und Sir, hörst du?«
Matilda wusste nicht genau, was sie sich unter manierlichem Verhalten vorzustellen hatte. Hieß es »bitte« und »danke« sagen, oder bedeutete es noch mehr? Als sie an die Tür des Wohnzimmers klopfte und wartete, bis sie hereingerufen wurde, wie Aggie ihr eingeschärft hatte, überlegte Matilda, ob sie beim Eintreten einen Knicks machen sollte oder ob das nur bei Leuten von Adel angebracht war.
»Komm herein!«, beantwortete Giles Milson ihr zögerliches Klopfen. Der Raum roch nach Lavendel und war trotz der noch kühlen Jahreszeit sehr warm. Der Pfarrer saß in einem Stuhl mit einer hohen Rückenlehne auf der einen Seite des Feuers, seine
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