Lesley Pearse
Maß an Autorität ein. Sie liebte Primrose Hill und wurde nicht müde, den sagenhaften Ausblick auf den Regent’s Park zu genießen. Giles erinnerte sie des Öfteren etwas erzürnt daran, dass außerhalb ihrer Gemeinde erbärmliche Gegenden lagen, in denen Menschen von der Armut und schrecklichen Krankheiten aufgezehrt wurden, aber da sie diese Viertel nie gesehen hatte, ließ sie sich nicht beunruhigen.
Tabithas Geburt war für sie ein Triumph. Nach vier Jahren des Wartens und Hoffens hatte sie sich bereits damit abgefunden, nie Mutter zu werden. Aber zu ihren Mutterfreuden gesellten sich auch Ängste. Plötzlich nahmen Giles’ Erzählungen über Kindstod und schreckliche, ansteckende Krankheiten neue Dimensionen an. Obwohl sie Hilfe mit Tabitha hätte gebrauchen können, lehnte sie es ab, neben Aggie, der Haushälterin von Reverend Hooper, die sie nach seinem Tod übernommen hatten, noch eine Magd einzustellen. Sie fürchtete sich vor möglichen Krankheiten, die ins Haus gebracht werden könnten.
Als sie die weinende Matilda jedoch betrachtete, erkannte Lily, dass die heutige Tragödie eine Warnung gewesen war. Sie hatte sich schon des Öfteren mit der alleinigen Versorgung des Kindes überfordert gefühlt, und heute war sie nur wenige Momente abgelenkt gewesen – dennoch hatte dies Tabitha in Lebensgefahr gebracht. Es war geradezu eine Ironie des Schicksals, dass die Straße voller Menschen ihres Standes gewesen war, ihr Kind aber dennoch von einem Mädchen derjenigen Klasse gerettet worden war, die sie so fürchtete. Lily schämte sich und legte Matilda die Hand auf den Arm.
»Weine ruhig, Liebes. Es ist nur der Schock«, meinte sie freundlich. »Du wirst dich besser fühlen, sobald du etwas gegessen hast und wir uns um dich gekümmert haben.«
Matilda war schon oft mit ihrem Blumenkörbchen in Primrose Hill gewesen, aber aus einer Kutsche sah alles völlig anders aus. Die großen Häuser mit ihren Marmorstufen und leuchtenden Messingverschlägen an den Vordertüren hatten früher immer bedrohlich gewirkt. Jetzt sahen sie einladend aus. Obwohl das Haus der Milsons das kleinste in der Straße war, war Matilda beeindruckt. Es war das erste, das sie jemals betreten würde.
Die Tür wurde von einer ältlichen, dicken Frau mit schneeweißer Schürze und zerzauster Haube geöffnet, aber ihr breites Lächeln verflüchtigte sich bei Mathildas Anblick.
»Das ist Matilda Jennings, Aggie«, erklärte Giles, als er sie ins Haus führte. »Heute Morgen hat sie Tabitha das Leben gerettet und sich verletzt. Schau doch bitte einmal nach ihren Wunden, und gib ihr etwas zu essen.«
Aggie führte Matilda mit finsterem Blick in die Küche. Sie war groß und hell und der sauberste Raum, den Matilda je gesehen hatte. Es befand sich ein riesiger Ofen darin, die Regale waren mit zierlichem Porzellan angefüllt, und sogar die Töpfe hingen dekorativ von Haken an den Wänden.
»Was ist denn nun mit Miss Tabitha passiert?«, warf Aggie ihr unfreundlich entgegen, sobald sie die Tür geschlossen hatte. »Und untersteh dich, mich anzulügen. Es mag sein, dass du den Reverend hinters Licht führen konntest, aber bei mir wird dir das nicht gelingen.«
Matilda überraschte diese Frage nicht. Köchinnen und Haushälterinnen waren bekannt dafür, ihre Dienstherren engagiert zu verteidigen. In wenigen Worten erklärte sie, was passiert war.
Aggie ließ sich erstaunt auf einen Stuhl fallen. »Du hast dich vor die galoppierenden Pferde geworfen?«
Galoppiert waren die Pferde zwar nicht, eher getrabt, aber immerhin waren es gleich vier Stück gewesen, weshalb Matilda eifrig nickte.
Aggies Gesicht hellte sich auf, und ihre Feindseligkeit war plötzlich verschwunden. »Sagenhaft! So etwas habe ich noch nie gehört«, rief sie aus. »Du bist ein tapferes Mädchen. Kein Wunder, dass Madam dich mitgenommen hat. Ich schau mir jetzt mal deine Wunden an.«
Es lag ein so verlockender Geruch nach Fleisch und Bratensauce in der Luft, dass Matilda versucht war, zuerst um Essen zu bitten, doch sie traute sich nicht. Sie drehte sich um, damit die ältere Frau ihren Rücken inspizieren konnte. Aggie berührte sanft die Wunde.
»Der Stoff deines Kleides klebt an der Wunde, und weder das eine noch das andere ist sehr sauber. Du könntest ein Bad vertragen, Miss!«
Als Matilda sich einige Zeit später endlich an einem Tisch niederlassen durfte und ihr ein Teller mit geschmortem Lammfleisch und frischem Gemüse vorgesetzt wurde, fragte sie sich, ob
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