Lesley Pearse
Gemeinde umhören würde, ob nicht jemand eine Magd benötigte. Aber jetzt, da sie sauber und ordentlich vor ihm stand, mit ihrem intelligenten Blick und der Offenheit ihrer Antworten und den gerade entdeckten Fähigkeiten des Lesens und Schreibens, glaubte Giles, der Himmel hätte sie als Kindermädchen für Tabitha gesandt. Er wusste nur zu gut, dass er sich zu impulsiv verhielt und er seine Frau befragen sollte, bevor er Matilda ein Angebot unterbreitete. Ihr würden bestimmt tausend Einwände einfallen, und sie würde ihn sicher anschließend bestrafen, indem sie sich kühl und beleidigt von ihm abwandte. Aber letztendlich rechtfertigte das Ziel die Mittel. Lily brauchte Hilfe mit Tabitha, und zwar schnell.
»Wie würde es dir gefallen, bei uns als Kindermädchen für Tabitha zu arbeiten?«, platzte er heraus.
»Wie es mir gefallen würde?« Matilda vergaß jegliches manierliche Verhalten und sprang von ihrem Stuhl auf. »Mehr als alles auf der Welt, Sir.«
Giles spürte, wie Lily neben ihm zusammenzuckte. Aber angesichts Matildas begeisterter Reaktion wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Warst du jemals in der Kirche und hast die Bibel gelesen?«, erkundigte sich Lily in förmlichem Tonfall. Sie mochte das Mädchen zwar ebenfalls und wollte es auch belohnen, aber über die übereilte Handlung ihres Mannes war sie zutiefst schockiert. Allerdings durfte eine Ehefrau ihrem Mann nicht in der Öffentlichkeit widersprechen. Sie würde warten müssen, bis sie allein waren.
»Dafür hatte ich bisher keine Zeit und Kleidung.« Matilda strahlte. »Jedenfalls nicht seit dem Tod meiner Mutter. Aber ich habe viel in Miss Agnews Bibel gelesen. Ich mag die Geschichte von David und Goliath.«
Lily verzog missbilligend das Gesicht. Sie mochte es nicht, wenn man die Bibel in denselben Zusammenhang wie eine billige Bildergeschichte brachte. »Wenn du bei uns arbeiten solltest, müssen wir dir selbstverständlich die Heilige Schrift näher bringen«, sagte sie spitz.
Lilys scharfer Tonfall ließ Matildas Aufregung verfliegen. Plötzlich erkannte sie, dass das Angebot lediglich vom Pfarrer kam, nicht von seiner Frau. Obwohl sie ihre Seele verkaufen würde, um hier arbeiten zu dürfen, wusste sie, dass sie bei ihrem ersten Fehler wieder entlassen werden würde, wenn sie Lilys Sympathie nicht gewann. »Ich muss erst mit meinem Vater darüber sprechen«, antwortete sie nach einem Moment des Nachdenkens. »Ich meine, wer wird nach den Kleinen schauen, wenn ich nicht mehr da bin?«
Giles ahnte jedoch den wahren Grund für ihre Zurückhaltung. »Natürlich musst du deinen Vater fragen«, stimmte er ihr zu, während er seiner Frau einen warnenden Blick zuwarf. »Auch meine Frau und ich müssen uns einig sein. Wie wäre es, wenn du am Sonntag mit deinem Vater noch einmal herkommen würdest? Wir werden dann alles klären, und du könntest sofort anfangen.«
Matilda wandte sich Lily mit einem gewinnenden Lächeln zu. »Ich weiß, dass ich nicht aussehe wie ein Kindermädchen. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, wenn ich auf Ihre Tochter aufpasse. Sobald kleine Kinder im Spiel sind, habe ich sogar Augen im Hinterkopf. Und ich werde mich Ihnen anpassen, Madam, und zwar sehr schnell.«
»Ja, ich bezweifle nicht, dass du das könntest, Matilda.« Lily lächelte zurück. »Wir sehen uns am Sonntag.«
2. K APITEL
L ucas hörte Matildas Beschreibung der dramatischen Ereignisse des Tages halb lächelnd zu. Ihn amüsierte, wie genau Matilda das Textilgeschäft und das Pfarrhaus beobachtet hatte. Es war ihm nur zu bewusst, dass Matilda leicht hätte ums Leben kommen können, doch Lächeln war seine Art, seine wahren Gefühle und Ängste zu verbergen.
»Aber wie könnte ich dich verlassen und für sie arbeiten, Vater?«, seufzte sie. »Was ist mit den Jungen?«
Lucas atmete tief ein, bevor er antwortete. Es war fast schon Ironie des Schicksals, dass sich Matilda ausgerechnet an dem Tag eine Chance bot, an dem er selbst sich so große Vorwürfe gemacht hatte, wie sehr er seine Kinder vernachlässigt hatte. Er war einmal genauso freundlich und herzlich wie Matilda gewesen, doch die harten Jahre hatten ihn verbittert und herzlos werden lassen. Er schämte sich seiner selbst. Es war kein Wunder, dass seine Jungs sich von ihm abwandten und zu zwei kleinen Gaunern wurden. Er konnte sich nicht erinnern, wann er seine Kinder das letzte Mal mit auf einen Ausflug über die Themse genommen hatte. Er war schon lange kein
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