Lesley Pearse
davonzurennen und in einem Haus zu verschwinden, hätte Matilda sicher angenommen, sich getäuscht zu haben. Ohne nachzudenken, folgte Matilda dem Mädchen. Sie lief eine Treppe zu einer Holzveranda hoch, die das gesamte obere Stockwerk des Gebäudes umgab. Matilda sah einige Stühle, Tische und zwei Türen. Sie klopfte an der ersten Tür.
Es war jedoch nicht Maria, die ihr öffnete, sondern eine alte Frau, die vollständig in Schwarz gekleidet war. Sogar das Schleiertuch, das sie über ihrem weißen Haar trug, war aus schwarzer Spitze.
»Ich habe Maria in Ihr Haus laufen sehen«, begann Matilda. »Dürfte ich einen Moment mit ihr sprechen?«
»Was haben Sie mit ihr zu schaffen?«, fragte die alte Dame. Sie hatte einen leichten ausländischen Akzent, den Matilda nicht genau bestimmen konnte. Ihre Augen waren dunkelblau und blickten sie durchdringend an.
»Nichts Bestimmtes«, antwortete Matilda. »Ich war zu Gast in dem Haus, in dem sie arbeitete, und habe mir Sorgen gemacht, weshalb sie plötzlich verschwunden ist. Ich möchte sichergehen, dass es ihr gut geht.«
»Warum sollten Sie sich um eine mexikanische Dienerin sorgen?«, entgegnete die Frau zornig und musterte sie von Kopf bis Fuß.
Matilda wurde wütend. »Ich denke, ich darf mir doch sicher Gedanken um jemanden machen, der schlecht behandelt worden ist, egal, welche Position er innehatte oder welcher Nationalität er angehört!«
Zu ihrer äußersten Überraschung lächelte die Dame. »Sie müssen die englische Lady sein, von der alle sprechen«, meinte sie. Sie legte den Kopf auf eine Seite und betrachtete sie zweifelnd. »Sie sind genauso hübsch, wie mir berichtet wurde, aber der grüne Mantel und Ihr Hut schmeicheln Ihnen nicht besonders.«
Die Frau mochte alt sein und ihr Gesicht so runzlig wie ein welker Apfel, aber sie hatte dennoch etwas Anziehendes und Attraktives an sich. Sogar diese letzte persönliche Bemerkung wirkte humorvoll. »Kommen Sie doch herein«, bat sie und öffnete die Tür, um den Blick auf eine Halle freizugeben, die in goldenen und dunkelroten Farben ausgestattet war. »Normalerweise würde ich eine junge Lady wie Sie nicht einlassen, aber da Sie sich um Maria sorgen, halte ich es für besser, wenn Sie sich nicht auf meiner Veranda zum Schauspiel machten.«
Plötzlich ging Matilda auf, dass dieser Ort ein Bordell sein musste und die Frau die Madame.
»Wissen Sie, was dies für ein Haus ist?«, fragte die Dame, bevor Matilda fortlaufen konnte. Sie lächelte, als amüsierte Matildas Schock sie.
Das Lächeln provozierte Matilda. Ihr Stolz ließ es nicht zu, offen zu erklären, sie sei ohne jede Vorahnung in das Haus geplatzt. Außerdem war sie neugierig.
»Natürlich«, sagte sie mutiger, als sie sich fühlte. »Aber ich kann nur ein paar Minuten bleiben, denn ich habe eine Schifffahrt gebucht und muss bald an Deck zurückkehren.«
Die Dame ließ die Eingangstür offen stehen und führte sie zu einer weiteren Tür. Matilda folgte ihr und stellte sich darauf ein, Verwahrlosung vorzufinden. Stattdessen sah sie einen großen, luxuriös eingerichteten Raum vor sich. Für eine Sekunde glaubte sie, sie habe sich über die Art des Hauses doch in die Irre führen lassen, doch dann entdeckte sie ein Gemälde über dem Kamin, das eine beinahe vollständig nackte Frau zeigte, die sich auf einem Bett ausstreckte.
Das schallende Gelächter der Dame erschreckte sie. »Meine Liebe, Ihren Gesichtsausdruck sollte man festhalten. Es tut mir so Leid, dass Sie behauptet haben, Sie wüssten, wo Sie sind.«
»Ich weiß es«, beharrte Matilda und versuchte, energisch zu klingen. »Aber ich war vorher noch nie in einem Bordell.«
»Bordell!«, rief die Dame entrüstet aus. »Dies, meine Liebe, ist ein Salon.«
»Ich fürchte, ich kenne den Unterschied nicht«, erwiderte Matilda. Sie war jetzt sehr nervös und überlegte, ob sie nicht besser durch die offene Tür davonlaufen sollte. »Vielleicht klären Sie mich darüber auf?«
Die Frau zeigte nicht das kleinste Anzeichen von Verlegenheit, während sie sprach. Sie erklärte, dass nicht alle Männer hierher kämen, um die Gesellschaft eines Mädchens zu erkaufen. Vielmehr sahen sie den Salon als Möglichkeit, gleich Gesinnte zu treffen, Freunde zu finden und sich in angenehmer Atmosphäre zu unterhalten. Ihre Mädchen nannte sie »Bewohnerinnen«, als wären sie lediglich Gäste, die den Raum noch dekorativer wirken ließen.
Die kultivierte Stimme und das graziöse Auftreten der Dame
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