Lesley Pearse
spürte, dass sie wieder eine neue Seite dieser interessanten, alten Dame kennen lernte, die im Herzen sehr feminin und ausgesprochen kultiviert war.
»Wie schön, dich wiederzusehen, meine Liebe«, sagte Zandra und kämpfte sich aus ihrem Sessel. Matilda fand es nur natürlich, dass Zandra zum vertrauten Du überging. »Ich habe schon aus einer meiner Quellen erfahren, dass all deine Kunden am Kai aufgereiht auf dein Schiff gewartet haben. Du musst wirklich erleichtert sein, für eine Weile kein Holz mehr sehen zu müssen.«
Als sich Zandras Gesicht beim Aufstehen vor Schmerz verzerrte, drückte Matilda sie sanft in den Sessel zurück. »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, aber nicht, dich so krank vorzufinden. Was ist mit deinen Beinen? Soll ich dir irgendetwas besorgen?«
»Es ist nur das Alter, das muss ich akzeptieren«, Zandra lächelte. »Jetzt erzähl mir ein wenig von deiner Freundin. Wie tragisch, dass ihr Mann gestorben ist!«
Matilda kam ihrem Wunsch nach, und Zandra lauschte ihr voller Anteilnahme.
»Aber was wird mit dir, wenn sie sich entschlossen hat zu verkaufen?«, fragte sie schließlich.
»Das weiß ich auch noch nicht genau«, antwortete Matilda und zog die Stirn in Falten, weil Zandra eine der Sorgen angesprochen hatte, die ihr auf der Seele lagen. »Das Seltsame daran ist, dass Cissy über meine Kinder spricht wie über ihre eigenen – als könnte sie sich ein Leben ohne sie überhaupt nicht vorstellen. Aber sie hat mich noch nie nach meinen Plänen gefragt. Manchmal denke ich, sie stellt sich vor, dass ich einfach mit ihr ziehen werde.«
»Es geht selten gut, wenn zwei Frauen gemeinsam in einem Haus wohnen«, meinte Zandra verständnisvoll. »Besonders wenn sie beide solch starke Charaktere sind. Aber was möchtest du denn am liebsten machen?«
»Nun, als ich das letzte Mal bei dir war, habe ich darüber nachgedacht, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Aber damals wusste ich natürlich noch nicht, dass John etwas zustoßen würde. Ich habe Cissy vorgeschlagen, gemeinsam mit unseren Kindern hierher zu ziehen. Aber sie hat sich anders entschieden. Das gestaltet es für mich etwas kompliziert, denn ich hatte wahrscheinlich einfach angenommen, Cissy würde sich um die Kinder kümmern, während ich für unseren Unterhalt sorge. Ich könnte natürlich auch ein Stück Land hier kaufen, aber ich würde nicht viel verdienen, und es ist harte Arbeit für eine Frau.«
Zandra beugte sich vor, und zu Matildas Überraschung nahm sie ihre rechte Hand und zog ihr den Handschuh ab.
»Nein, sie sind so hässlich!«, rief Matilda aus und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Aber Zandra hielt sie fest und strich mit den Fingern über die Schwielen und Narben. Durch die harte Arbeit der letzten Wochen waren sie noch gröber geworden.
»Diese Hände verraten einiges über dein bisheriges Leben«, bemerkte sie sanft. »Du musst jetzt einen Weg finden, dein kluges Köpfchen zu benutzen, um dich zu ernähren, anstatt weiterhin körperlich zu schuften, wie du es eindeutig bisher getan hast. Wenn du so weitermachst, wirst du vor deiner Zeit alt werden.«
»Ich bin in harte Arbeit hineingeboren worden«, entgegnete Matilda.
»Ich bin in die Aristokratie hineingeboren«, gab Zandra zurück. »Aber es ist nicht unbedingt notwendig, die Position, in die man geboren wurde, als einzige Möglichkeit zu akzeptieren. Sag mir, was du dir am meisten von deinem Leben erhoffst.«
Matilda erschrak. Diese Frage war ihr bereits zwei Mal gestellt worden, von Flynn und Giles, und beide hatten ihr Leben sehr stark geprägt. Sie hatte den unbestimmten Eindruck, dass Zandra einen ähnlich wichtigen Einfluss auf ihre Zukunft ausüben würde.
»Dass ich Tabitha und Amelia eine gute Ausbildung ermöglichen kann!«
»Warum?«
»Damit sie nicht glauben, sie müssten den erstbesten Mann heiraten, der um ihre Hand anhält. Damit sie sich aussuchen können, ob sie Lehrerin, Ärztin oder Rechtsanwältin werden wollen, wenn es das sein sollte, was sie möchten.«
»Damit sie in den richtigen gesellschaftlichen Kreisen anerkannt werden. Das meinst du doch, oder?«
»Vermutlich«, stimmte Matilda zu und war ein wenig peinlich berührt.
»Du brauchst nicht befangen zu sein, meine Liebe«, sagte Zandra mit einem kleinen Lächeln. »Es ist richtig, dass du dir für deine Kinder etwas Besseres erhoffst. Aber diese Art Ausbildung ist teuer, und mit einem Stück Land in Oregon wirst du nie genügend verdienen. Du musst in
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