Lesley Pearse
Wertsachen mitzunehmen.«
Matilda lächelte. »Das hätte ich sicher auch getan.«
Zandra zuckte die Schultern. »Er schickte ein paar Männer, die mich ausfindig machten und mir alles fortnahmen, nicht nur seine Sachen, sondern auch meine Juwelen und die meisten meiner Kleider. Das erste Mal in meinem Leben war ich plötzlich vollkommen verloren. Ich war mit einem Baby allein, das ich versorgte, so gut ich konnte – ich hatte absolut keine Erfahrung mit der Pflege von Kindern.« Sie hielt wieder inne, und ihre Augen schwammen in Tränen. »Ich könnte es nicht ertragen, dir zu erzählen, was mir in diesem schrecklichen Jahr alles zugestoßen ist. Dies muss ausreichen: Ich habe jede Demütigung erfahren, die du dir vorstellen kannst. Ich hatte Hunger, war schmutzig und verzweifelt. Dann, als ich Angst hatte, mein Sohn würde verhungern, habe ich meiner Familie geschrieben und meinen Vater angefleht, mir zu helfen.«
»Hat er dich etwa zurückgewiesen?«, rief Matilda aus.
»Er weigerte sich, persönlich mit mir zu sprechen, aber er hat mir ein wenig Geld geschickt und mir gesagt, ich solle seinen Anwalt in London treffen. Dort wurde mir ein Vorschlag unterbreitet. Ein Freund meines Vaters, ebenfalls ein außerordentlich wohlhabender Mann, wünschte sich schon lange verzweifelt einen Erben. Er und seine Frau waren bereit, Piers aufzunehmen und ihn wie einen eigenen Sohn aufzuziehen. Ich kannte diese Menschen gut, Matty, und wusste, sie waren ehrbare und freundliche Leute. Die Abmachung war jedenfalls, dass ich Piers dem Anwalt übergeben und dafür zweihundert Pfund erhalten sollte, unter der Voraussetzung, dass ich England für immer verlassen würde.« Sie hielt inne und blickte Matilda trotzig an. »Ich stimmte zu. Ich ging nach Paris, weil ich fließend Französisch sprach. Mit dem Geld etablierte ich mich in dem einzigen Gewerbe, für das ich irgendwelche Qualifikationen besaß.«
Matilda kam zu Zandra herüber und kniete sich vor sie. »Es tut mir so Leid«, flüsterte sie.
Zandra zuckte die Schultern und tupfte ihre Augen trocken. »Ich bereue nicht, meinen Sohn fortgegeben zu haben. Ich bin sicher, er hätte sein zweites Lebensjahr nicht erreicht, wenn ich mich geweigert hätte. Aber wofür ich mich wirklich schäme, ist, dass ich das Geld angenommen habe«, bekannte sie. »Das ist die Schuld, die ich auf mich genommen habe. Sogar noch fünfzig Jahre später zehrt sie mich auf.«
»Ich glaube nicht, dass du eine andere Wahl hattest«, meinte Matilda.
»Doch, die hatte ich. Ich hätte ihnen Piers geben und ohne das Geld verschwinden können. Aber ich nahm es, weil ich ansonsten in der Gosse gestorben wäre.« Zandra blickte sie an. »Nun, du hast selbst entschieden, hierher zu kommen und deine Kinder bei Cissy zurückzulassen. Keiner hat dich gezwungen. Genau wie ich musst du mit dieser Entscheidung leben und einen Weg finden, dir zu verzeihen. Sonst wirst du hart und rücksichtslos, genau wie ich.«
»Ich finde nicht, dass du hart oder rücksichtslos bist«, erwiderte Matilda und strich der älteren Frau zärtlich über das Gesicht. »Das mag vielleicht mein erster Eindruck gewesen sein, aber ich habe mich bald eines Besseren belehren lassen.«
»Mein erster Eindruck von dir war, dass du eine Frau mit großem Herzen bist«, erklärte Zandra sanft. »Und dieser Eindruck hat sich erhalten. Sieh zu, dass du so bleibst.«
Am Abend der Eröffnung wurden die Fackeln draußen um acht Uhr angezündet, und die Band begann, einen fröhlichen Tanz zu spielen. Die große Menschenmenge, die sich in der letzten Stunde langsam eingefunden hatte, strömte wie eine Sturmflut ins Innere. Jeder wollte London Lil’s sehen.
Dolores hatte Matildas Haar in großen Locken auf ihrem Kopf aufgetürmt, und sie konnte kaum glauben, dass die elegante Dame, die sie aus dem Spiegel anblickte, sie selbst war. Ihr Kleid war ein Geschenk von Zandra. Es war aus blauem Samt und unsittlich tief ausgeschnitten, zumindest war das Matildas Eindruck gewesen.
»Papperlapapp!«, hatte Zandra gerufen, »du darfst auf keinen Fall wie eine Lehrerin aussehen. Außerdem ist der Schnitt der letzte Schrei in Paris.«
Matilda hatte ein Paar ellbogenlange Spitzenhandschuhe im selben Ton gefärbt, und unter ihrem Kleid wurden ihre Seidenstrümpfe von einem Paar roter Strumpfbänder gehalten. Sie waren ein Geschenk von Charles, und er hatte gelacht, als er ihren geschockten Gesichtsausdruck beim Öffnen des Päckchens gesehen hatte.
»Du magst
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