Lesley Pearse
runtergehen«, Matilda lächelte, als sie die Band aufspielen hörte. »Brauchst du noch etwas, bevor ich gehe?«
»Ich kann mir schon selbst helfen«, antwortete Zandra in vorwurfsvollem Tonfall. »Geh nach unten, und vergnüge dich ein bisschen.«
Matildas Augen streiften durch den Raum, bevor sie ging. Der Anblick erfreute sie wie immer. Champagnerfarbene Gardinen hingen an den Fenstern, ein kastanienbraunes Samtsofa, ein dicker Teppich auf dem Boden und ein eleganter, französischer Sekretär aus Rosenholz, den Zandra ihr geschenkt hatte, schmückten das Zimmer. In ihren kühnsten Träumen hätte sie sich nicht vorstellen können, einmal eine solche Wohnung zu besitzen.
Immer wenn Matilda die Galerie entlangging, blieb sie zunächst stehen, um einen Blick auf die Menge unten zu werfen. Wie gewöhnlich lächelten die Männer zu ihr hoch. Dies war eine weitere Quelle der Freude für sie. Obschon sie wusste, dass Frauen wie Alicia Slocum und andere Damen der feineren Gesellschaft sie nicht akzeptierten, wurde sie von deren Männern bewundert. Zu Hause würde ihr azurblaues schulterfreies Kleid aus Seide missbilligend erhobene Augenbrauen provozieren. Sogar Cissy würde geschockt sein, wie viel nackte Haut sie entblößte. Aber seit sie London Lil war, bemühte sie sich nicht länger, wie eine amerikanische Lady zu klingen oder auszusehen. Das Londoner Straßenmädchen, die abgebrühte Geschäftsfrau, die abenteuerlustige Pionierin – dies waren die drei Seiten, die inzwischen ihre Persönlichkeit ausmachten, und sie hatte mehr als nur einen Hauch von Eleganz von Zandra angenommen.
Versteckt unter ihrem Seidenunterrock trug Matilda eine kleine Pistole an ihrem roten Strumpfband. Sie mochte mit ihrem Perlmuttgriff hübsch aussehen, aber sie hatte sie schon bei vielen Gelegenheiten, bei denen die Dinge außer Kontrolle geraten waren, herausgezogen und war ernsthaft gewillt gewesen, sie auch zu benutzen.
Genau wie sie ihre Hände unter Spitzenhandschuhen versteckte, hatte sie gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Sie wusste, ihre Angestellten und Kunden hielten sie für hartherzig und unzugänglich, für eine Frau, die niemals Zuflucht zu weiblichen Tränen nahm. Aber sie fragte sich oft, was sie wohl von ihr denken würden, wenn sie sie nachts allein in ihrem Zimmer sehen könnten.
Sie weinte sehr oft. Um ihre Kinder, die sie so furchtbar vermisste. Um die wenigen glücklichen Monate, nachdem sie bei Cissy und John angekommen war und sie die Tage damit verbracht hatte, ihre Kinder zu lieben und mit ihnen zu spielen, ohne sich wirklich um ihre Zukunft sorgen zu müssen. Auch um Giles weinte sie und um das Glück, das sie geteilt hätten, wenn er nicht erschossen worden wäre. Nach all der langen Zeit sehnte sie sich noch mit Körper und Seele nach ihm. Sie fragte sich, ob dieses Gefühl wohl jemals vergehen würde.
Doch abgesehen von den Menschen, die sie vermisste, gab es auch in San Francisco viele Dinge, die sie traurig stimmten. So viele Männer, die ihre Frauen und Kinder verlassen hatten, waren hier draußen bei der Goldsuche umgekommen. Bei Schießereien, durch Unfälle und Krankheiten hatten sie ihr Leben lassen müssen. Die Stadt war außerdem voller Prostituierte. Es gab zwar einige wenige, die in eleganten Salons arbeiteten, für die meisten Frauen und Mädchen jedoch führte dieser Weg unweigerlich zu Demütigung und frühzeitigem Tod. Matilda hatte in den letzten zwei Jahren oft von reisenden Huren gehört, die zu den Goldsuchern in die Berge fuhren, um ihr Geld zu verdienen. In hastig errichteten Zelten standen sie in der Nacht so vielen Männern wie möglich zur Verfügung.
Noch tragischer war das Schicksal vieler chinesischer Mädchen, die im jungen Alter von neun oder zehn Jahren nach Amerika kamen. Meist waren sie von ihren Eltern verkauft worden, weil das Leben eines Mädchens für sie ohne Wert war. Ihr Dasein war die Hölle. Sie wurden in einer Art Käfig gehalten, ausgehungert und mit Opium voll gepumpt, damit sie ruhig und gefügig waren. Sie sahen nie auch nur einen Cent von ihren vielen Kunden.
Matilda konnte nichts dagegen tun, besonders den Chinesinnen konnte sie nicht helfen. Sie hatte es auf verschiedenste Weise versucht, war jedoch überall in der Stadt auf taube Ohren gestoßen.
Dennoch war sie immer noch fest entschlossen, dieses und andere Übel zu beseitigen, auch wenn sie bislang noch keine größeren Erfolge erzielt hatte, als ein paar Mädchen von der Straße gerettet und
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