Lesley Pearse
Monaten in Oregon so viel an diesen Mann gedacht, und damals in der Hütte hätte sie ihn jederzeit willkommen geheißen. Doch er hatte sie nicht besucht und ihr nicht geschrieben, und in der Sekunde des Wiedererkennens konnte sie an nichts anderes denken als daran, dass dieser Mann all ihre Geheimnisse kannte.
»Bist du es wirklich, Matty?«, fragte er, und seine tiefe Stimme rief etliche Erinnerungen an den Treck wach. »Ich kann es nicht glauben. Oh, Matty!«
Ihm standen Freude, Überraschung und Ungläubigkeit zugleich ins Gesicht geschrieben. Ihr Herz klopfte, und der Wunsch, sich zu verstecken, war plötzlich vergessen. Es war wundervoll, ihn wiederzusehen.
»Captain Russell!«, erwiderte sie und versuchte, ihre Gelassenheit zurückzuerlangen. »Was um alles in der Welt tust du in San Francisco?«
Er kam näher auf sie zu. Sein blondes Haar war kürzer geschnitten und reichte jetzt nur noch bis zu seinem Kragen. Seinen Bart hatte er zu einem schmalen Streifen gestutzt. Er trug einen dunkelgrünen Mantel über seinen Reithosen und den hohen, glänzend braunen Stiefeln. Er sah aus wie der Gentleman, der er auch war, wie Matilda wusste. Doch sein athletischer Körper und die kleinen Linien um seine Augen, die vom ständigen Blinzeln in die Sonne herrührten, hatten sich nicht verändert.
Er bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die um sie herum standen. »Komm mit mir, dann können wir uns unterhalten«, bat er und fasste sie am Handgelenk. Er führte sie zur Tür und beabsichtigte ganz offenbar, zur Veranda hinauszugehen, doch Matilda stoppte ihn. So sehr es sie aus der Fassung brachte, ihn wiederzusehen, war es doch ein kalter Abend, und außerdem musste sie ihre Gäste weiter im Auge behalten.
»Nein, lass uns zur Balustrade hochgehen«, wehrte sie ab. Sie drehte sich um, und James folgte ihr. Er hob fragend eine Augenbraue, als sie sich an einen reservierten Platz setzte. Offenbar wusste er nicht, dass es ihr eigener Tisch war und dass London Lil’s ihr gehörte.
Er setzte sich und blickte sie einen Moment fassungslos an. »Was für eine Sensation!«, rief er schließlich aus, und seine Augen funkelten. »Es tut mir Leid, wenn ich mich wiederhole, aber es kommt einfach so überraschend. Weißt du, als man mir sagte, London Lil’s sei der beste Ort in der Stadt, habe ich sofort an dich denken müssen.« Er hielt inne, als wollte er Kraft sammeln, und legte beide Hände an seine Schläfen. »Es war so seltsam. Ich sah plötzlich lebhaft dieses Bild vor mir, wie du mir von London erzähltest. Ich glaube, ich wäre vermutlich sogar dann hierher gekommen, wenn es der verrufenste Saloon der Stadt gewesen wäre, allein wegen des Namens. Während des gesamten Weges hier herauf habe ich an dich gedacht. Dann komme ich herein, und du stehst wirklich vor mir.«
Seine Freude über ihr Wiedersehen rührte Matilda. All die Erinnerungen daran, wie gute Freunde sie gewesen waren, kamen zu ihr zurück. Plötzlich dachte sie auch wieder daran, dass aus ihrer Beziehung etwas Größeres hätte entstehen können, wenn sie damals kein Kind erwartet hätte.
»Ich bin überrascht, dass du dich überhaupt an mich erinnerst«, entgegnete sie förmlich. »Du triffst wahrscheinlich viele Frauen auf den Trecks.«
»Aber niemals solche wie dich«, meinte er lächelnd.
»Ich war zwar sehr enttäuscht, als du nicht auf meinen Brief geantwortet hast, doch ich dachte, du hättest vielleicht wieder geheiratet«, fügte er hinzu.
»Brief? Ich habe nie einen erhalten«, rief sie aus. »Wann hast du ihn losgeschickt?«
»Am Weihnachtsfest nach unserer Trennung. Ich bin noch ein paar Wochen in The Dalles geblieben und habe die Fahrten für die anderen Treckteilnehmer über den Columbia River organisiert. Ich hatte vor, dich im Frühling zu besuchen, aber da ich keine Antwort bekam und später wieder zum Fort Laramie zurückbeordert wurde, habe ich die Gelegenheit verpasst.«
Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte. Immerhin hatte sie sogar Briefe aus Independence erhalten. Weshalb sollte ausgerechnet dieser wichtige Brief verloren gegangen sein?
»Und was bringt dich in die Stadt?«, fragte sie. Er klang anders als früher, und er sah anders aus. Er war in allem ein richtiger Gentleman und nicht mehr der raue, grobe Mann, den sie auf dem Treck kennen gelernt hatte. »Hast du die Army verlassen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin dabei geblieben. Ich bin auf meinem Weg zu einer neuen Stationierung im Territorium New
Weitere Kostenlose Bücher