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Lesley Pearse

Lesley Pearse

Titel: Lesley Pearse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo das Gluck zu Hause ist
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wohnten, deren Leben aber dennoch eng verknüpft war. Wegen der Enge in der Stadt spielte sich das Leben auf der offenen Straße ab, und das hatte sich auch nicht geändert, seitdem mehr Wohnraum zur Verfügung stand. Matilda hatte sich das Miteinander hier oft wie ein lebendes Theater vorgestellt, in dem viele unterschiedliche Stücke zur gleichen Zeit inszeniert wurden. Auch heute hörte sie lebhafte Musik auf den Gassen und Gelächter aus den Cafés, Saloons und Restaurants. Die Straßen waren so befahren wie immer, und Menschenmengen drängten sich über die Wege, aber dennoch meinte sie, die Mutlosigkeit, die die Menschen erfasst hatte, greifen zu können.
    Sie sah Männer, die ziellos durch die Straßen irrten, als hofften sie, zufällig über Arbeit zu stolpern. Die Frauen sahen ängstlich aus, hielten nachdenklich vor den Auslagen inne und schienen sorgfältig das knappe Haushaltsgeld zu kalkulieren. Das Geschrei der Marktleute klang eher verzweifelt als aufmunternd, und sogar die Hunde in den Gassen waren dünner als je zuvor.
    Was sie jedoch am meisten betroffen machte, war die große Anzahl der sehr jungen Frauen, die sich durch die Straßen bewegten und früher wahrscheinlich als Dienstmädchen in privaten Haushalten oder Geschäften gearbeitet hatten. Es schien Matilda erst so kurze Zeit zurückzuliegen, seit Alicia Slocum sich beschwert hatte, wie schwierig es sei, eine Dienerin zu finden. Sogar noch im letzten Jahr hatte sie in den Schaufenstern der Geschäfte Schilder gesehen, auf denen eine Anstellung angeboten worden war. Doch diese waren nun verschwunden, und Matilda wusste nur allzu gut, in welchem Gewerbe sich diese Mädchen in ihrer Verzweiflung betätigen würden, wenn sich nichts anderes anbot.
    Während sie noch darüber nachdachte, ging sie in Richtung Sydney Town, was als der erbärmlichste Slum in der Gegend um den Telegraph Hill verschrien war. Obwohl das Viertel nur acht Häuserblocks umfasste, war es voller Bordelle, Saloons und zwielichtiger Tanzlokale. Immer schon hatte es den niedrigsten und unglücklichsten Menschen Schutz geboten und war Brutstätte für Kriminalität und Mord gewesen. Auf Grund der verbrecherischen Taten und Grausamkeiten, die dort begangen wurden, hatte es sich den Namen »Barbary Coast« eingetragen, und im vergangenen Jahr hatten Politiker, Sozialreformer und Journalisten es immer wieder mit den furchtbaren Elendsvierteln Seven Dials in London und Five Points in New York verglichen.
    Matilda hatte den Versuch, das Rotlichtviertel von San Francisco mit den beiden monströsen Orten, die sie persönlich erkundet hatte, zu vergleichen, stets verlacht. Sie hatte angenommen, die Menschen übertrieben, aber jetzt erkannte sie: Barbary Coast stand den beiden Slums wirklich in nichts nach.
    Sie konnte die Verkommenheit und Armut förmlich riechen und die Krankheit und Korruption spüren, die in den dunklen Gassen lauerten. Sogar jetzt, im hellen Tageslicht, arbeiteten die Prostituierten auf den Straßen und entblößten aufdringlich ihre Brüste in tief ausgeschnittenen Satinkleidern. Manche saßen sogar in den Schaufenstern und trugen nur Unterwäsche. Während sie an den Gassen vorbeilief, musste sie ihren Blick abwenden, um nicht Zeugin der überstürzten Vereinigung zwischen Seeleuten und Huren zu werden. In den Augen vieler Elender erkannte sie den verräterischen Blick der Opiumabhängigen, und zahllose Betrunkene lagen auf den Straßen herum, ohne ihre Umgebung noch wahrzunehmen.
    Matilda hatte genug gesehen, um sich elend zu fühlen, und ging wieder nach Hause, während sie versuchte, sich an die schöneren Dinge zu erinnern. Doch eine Stimme in ihrem Innern rief ihr immer wieder ins Gedächtnis, dass sie als Geschäftsfrau und Bürgerin dieser Stadt nicht die Augen und Ohren vor dem verschließen dürfte, was nicht weit von ihr entfernt vor sich ging.
    Ein paar Abende später, gegen Ende September, saß Matilda auf der Galerie und beobachtete von oben das Treiben im Gastraum. Ihr ging es jetzt viel besser. Sie hatte mit dem Trinken aufgehört und die Zügel ihres Geschäfts wieder in die eigenen Hände genommen. Weil sie die ganze Zeit beschäftigt war und arbeitete, hatte sie keine Gelegenheit, wieder in Selbstmitleid zu verfallen. Jeden Tag aß sie mit Sidney und Peter zu Abend, und sie waren langsam auch wieder fähig, über Cissy und die Mädchen zu reden, was Matilda als gutes Zeichen nahm.
    Sie hatte eigentlich einen ruhigen Abend erwartet, weil es so

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