Lesley Pearse
ängstlich von einer Frau zur anderen.
»Sag uns einfach die Wahrheit«, bat Matilda freundlich. »Wir werden es nicht weitererzählen, denn wir sind deine Freunde.«
Sie war erst vierzehn, und ihre Mutter war die Haushälterin einer Familie aus Philadelphia gewesen. Fern hatte seit ihrem siebten Lebensjahr dort als Küchenmädchen gearbeitet. Im vergangenen Jahr war sie unter der Aufsicht einer schwarzen Frau namens Mrs. Honeymead mit neun anderen Mädchen nach Kalifornien gereist. Ihnen war versprochen worden, dass sie dort gut bezahlte Jobs als Dienstmädchen finden würden. Was sie jedoch bei ihrer Ankunft vorfanden, war ein Bordell im Hafenviertel.
»Für diese Nacht hast du genug erzählt«, unterbrach Dolores sie, und Matilda war darüber ein wenig überrascht. Dolores zog dem Mädchen ein sauberes Nachthemd an, gab ihm ein Medikament und sagte: »Schlaf jetzt, ich werde in der Nacht nach dir sehen.«
Sidney, Albert und Mary saßen an der Bar und tranken Kaffee, als Matilda und Dolores aus Ferns Zimmer kamen, und blickten sie ängstlich an.
»Dem Mädchen geht es nicht gut«, erklärte Matilda. »Aber es schläft jetzt. Ihr geht auch am besten zu Bett, ich werde euch morgen mehr davon erzählen.«
»Warum hast du die Erzählung des Mädchens so forsch unterbrochen?«, fragte Matilda, sobald Dolores und sie in der Wohnung angekommen waren.
Die Magd schenkte ihr einen verächtlichen Blick. »Ich wollte nicht, dass Fern in der Nacht von bösen Träumen über diesen schrecklichen Ort heimgesucht wird«, antwortete sie. »Für heute hat sie genug durchgemacht.«
»Du kennst dieses Bordell also?«
»Natürlich kenne ich es«, antwortete Dolores kopfschüttelnd. »Man nennt es Girlie Town, und es ist sicher der fürchterlichste Ort, an dem man enden kann. Sie haben ganz junge Mädchen dort, hauptsächlich Schwarze und Chinesinnen, und die Bestien, die sie dort auf die Kinder loslassen, sind es nicht wert, Männer genannt zu werden.«
Matilda hörte schaudernd zu, als Dolores fortfuhr zu berichten, wie die Mädchen gefesselt würden.
»Sie haben doch die Striemen an ihren Gelenken gesehen, nicht wahr? Das ist die Art und Weise, wie sich die Männer an diesem Ort vergnügen. Und diese Mrs. Honeymead! Sie ist eine von Grund auf böse Frau. Ich habe gehört, sie kommt aus Haiti, und man munkelt, dass sie die Menschen mit Flüchen belegt, wenn sie sich ihr in den Weg stellen.«
Es war erstaunlich, wie viel Dolores wusste. Mrs. Honeymead war eine Kupplerin und arbeitete für einen Mann namens Gilbert Green, der auch als »Big Gee« bekannt war. Ihm gehörten einige niedrige Vergnügungslokale in der Hafengegend, in denen Männer für zehn Cent dabei zusehen konnten, wie eine Frau von einem Mann aus dem Publikum vergewaltigt wurde.
»Alle Mädchen dort gelangen wie Fern in dieses Bordell«, erklärte Dolores. »Kleine Unschuldsengel, die weit fort von zu Hause sind. Nach ein paar Jahren dieser brutalen Behandlung sind sie abgestumpft, und dann ist es ihnen gleichgültig, zu welchen Handlungen sie gezwungen werden.«
»Ich verstehe nicht, warum mir das nicht früher zu Ohren gekommen ist.« Matilda war empört.
»Als Sie damals in die Stadt gekommen sind, gab es diese Orte noch nicht«, erklärte Dolores. »In dieser Zeit wollten die Goldgräber einfach nur eine Frau haben, mehr nicht. Aber es gibt kein Gold mehr in dieser Gegend, und die schlechten Menschen haben sich eben schnell eine neue Methode ausgedacht, wie sie Geld verdienen können. So sind diese Bordelle entstanden.«
»Aber wieso weißt du das alles?«
»Ich bin eine Schwarze!«, entgegnete sie schulterzuckend. »Andere Schwarze erzählen mir davon. Außerdem bin ich schon oft gerufen worden, um Mädchen wie Fern zu helfen.«
Dolores verschwand abends oft zu den sonderlichsten Uhrzeiten, doch Matilda hatte immer vermutet, die Nachrichten, die für sie an der Bar hinterlassen wurden, hingen mit ihrer Kirche zusammen. »Aber Fern hat gesagt, dass sie nicht wüsste, wo sie hingehen sollte. Meinst du, dieser Big Gee hat sie rausgeworfen?«
»Er wirft nicht einfach seine Mädchen raus, besonders dann nicht, wenn sie so jung und unverbraucht sind wie Fern. Ich vermute, sie ist geflüchtet, und wenn das der Fall ist, wird er sie suchen.«
Matilda konnte die ganze Nacht nicht schlafen, denn Dolores hatte furchtbare Bilder in ihr wachgerufen. Zwei Mal stand sie auf, um nach Fern zu sehen, aber glücklicherweise schlief sie tief und fest. Matilda fragte
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