Lesley Pearse
seit zwei Tagen keiner Menschenseele begegnet, und wenn Matilda nur einen Wunsch frei gehabt hätte, hätte sie sich erbeten, für immer mit James hier bleiben zu können.
Es gab an diesem Ort nichts, was sie an ihre Tochter erinnerte. In San Francisco beschworen Sidneys und Peters Gespräche über die Vergangenheit so oft Erinnerungen an Amelia herauf, dass ihr kleines Gesicht Matilda dauernd in den Sinn kam und aus ihren Gedanken nicht zu vertreiben war. Natürlich konnte sie sich ohnehin an jede einzelne Eigenschaft ihrer Tochter erinnern, aber hier in Santa Cruz war es ihr möglich, ihre Erinnerungen zu kontrollieren, indem sie die positiven wieder und wieder durchlebte, während sie die negativen rund um ihren Tod fortschob.
Sie war jetzt froh, Fern geholfen und dadurch auch die anderen Mädchen gefunden zu haben. Es würde ihr zwar niemals die verlorene Tochter ersetzen, aber es besänftigte den Schmerz ein wenig, jetzt etwas Sinnvolles zu tun. Es war, wie Dolores damals gesagt hatte, als sie so böse auf Matilda gewesen war: Sie hatte ja auch noch Tabitha, Peter und Sidney.
Tabitha war sehr glücklich in ihrer neuen Schule und entwickelte sich hervorragend. Peter hatte Freunde gefunden und schien sich wohler in San Francisco zu fühlen. Inzwischen eiferte er James nach und wollte unbedingt Soldat werden. Und Sidney war ihr eine so wertvolle Hilfe, dass sie sich oft fragte, wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte.
Manchmal hatte sie in den vergangenen Wochen darüber nachgedacht, nach England zurückzukehren, aber im Grunde wusste sie, dass solche Gedanken Unsinn waren. Schließlich war jeder, der ihr wichtig war, in Amerika. Außerdem würde sie nach diesem Urlaub das Jennings Büro eröffnen, eine Agentur zur Vermittlung junger Frauen in den Beruf.
Viele in San Francisco glaubten, sie sei verrückt, ein solches Wagnis während der finanziellen Krise in Betracht zu ziehen, aber Matilda war überzeugt, dass diese Sichtweise kurzsichtig war. Es strömten immer noch viele Menschen nach Kalifornien, die durch das milde Klima angezogen wurden, und diese Leute waren entschlossener als diejenigen, die während des Goldrauschs in die Stadt gekommen waren. Sie alle würden Bedienstete brauchen, Kindermädchen, Näherinnen und Verkäuferinnen, und Matilda würde diejenige sein, die das Bedürfnis nach Personal decken konnte. An Weihnachten hatte sie Sidney zum Manager von London Lil’s ernannt, damit sie sich vollkommen auf das neue Projekt konzentrieren konnte.
Diese Idee war ihr gekommen, während sie die kranken Mädchen aus dem Bordell gesund gepflegt hatte. Obwohl sie sich körperlich langsam erholten, erkannte Matilda bald, dass es nur einen Weg gab, ihre geistigen Wunden heilen zu lassen und sie für immer davon abzuhalten, in ein Leben des Lasters zurückgezogen zu werden: Sie mussten etwas lernen, das ihnen eine ordentliche Anstellung ermöglichte. Allerdings waren sie noch viel zu jung, um einen Beruf ausüben zu können, und deshalb hatte Matilda zuerst versucht, die rechtschaffeneren Menschen der Gemeinde zu überzeugen, eines der Kinder aufzunehmen und es bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr zu versorgen. Doch dabei war sie kläglich gescheitert – keiner, so schien es, war warmherzig und verständnisvoll genug, um so vorbelastete Mädchen aufzunehmen. Immerhin unterstützten inzwischen einige der Mildtätigeren durch Spenden den Unterhalt der Kinder.
Es war ihr alter Freund Henry Slocum gewesen, der vorgeschlagen hatte, mit diesen Geldern ein Treuhandvermögen aufzubauen. Falls es ihr gelingen würde, ein Haus zu finden und einzurichten, in dem sie die Mädchen bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr aufziehen könnte, so wollte er persönlich dafür sorgen, dass die Stadt Gelder als Unterstützung zur Verfügung stellte.
Im Dezember war es Matilda gelungen, ein solches Haus zu einem günstigen Mietpreis in der Folsom Street zu finden. Die Stimmung unter den Mädchen hatte sich erheblich verbessert, als sie das frühere Bordell hatten verlassen dürfen, mit dem sie so fürchterliche Erinnerungen verbanden. Obwohl das neue Heim in dieser ersten Dezemberwoche kalt und noch kaum möbliert war, hatte Matilda am Umzugstag das erste Mal wirkliches Lachen aus ihren Mündern gehört.
Fern war ihr unentbehrlich geworden. Matilda hatte sie nach ihrer Gesundung in London Lil’s behalten, sodass sie Dolores’ Aufgaben übernehmen konnte, während sie die Mädchen im Bordell pflegte. Außerdem war sie für
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