Lesley Pearse
Matilda die ideale Mittlerin im Girlie Town, denn die viel jüngeren Mädchen kannten sie als ehemalige Leidensgenossin und vertrauten ihr. Fern war es auch gelungen, die Mädchen zum Reden zu bringen. Ein chinesischer sowie ein mexikanischer Dolmetscher hatten übersetzt. Mr. Rodrigious hatte auf diese Weise seine Zeugenaussagen bekommen, und Mrs. Honeymead wurde zu zehn Jahren Schwerstarbeit verurteilt.
Dolores führte das neue Heim und war in eines der Zimmer im vorderen Teil des Hauses gezogen. Jedes der Kinder wusste, hinter der strengen Fassade verbarg sich eine verständnisvolle, warmherzige Frau. Dennoch hatten sie gelernt, dass Dolores wachsam und sehr hart sein konnte und sich von niemandem zum Narren halten ließ. Sie hatte hohe Hygienestandards eingerichtet und erwartete von den Mädchen, dass sie sich daran hielten. Sie mussten essen, was zur Verfügung stand, oder ansonsten hungern. Auch hatte sie ihnen eingeschärft, das Haus nur in ihrer Begleitung zu verlassen.
»Dieses Haus ist zwar ein sicherer Hafen für euch, solange ihr ihn benötigt, aber ihr müsst hier dennoch etwas lernen«, erklärte Matilda den Mädchen bei ihrem Einzug. Die Hausarbeit wurde unter ihnen aufgeteilt, und die Mexikanerinnen und Chinesinnen mussten Englisch lernen. Alle würden Lesen und Schreiben lernen, genau wie Nähen, Kochen und andere Fertigkeiten des Haushalts.
James rührte sich neben ihr und begann, ihren Rücken zu streicheln. »Ich muss eingeschlafen sein«, murmelte er. »Das dürfte einem Gentleman eigentlich nicht passieren.«
Matilda drehte sich zu ihm um und küsste seine Nase. »Vielleicht solltest du einmal versuchen, in der Nacht zu schlafen«, sie kicherte.
»Woran hast du gerade gedacht?«, fragte er und setzte sich neben ihr auf. »Ich hoffe, es war nichts Trauriges?«
»Überhaupt nicht«, versicherte sie. James’ Rückkehr war die beste Medizin für ihre Trauer gewesen. Er hatte sie reden und über Amelias, Cissys und Susannas Tod weinen lassen. Aber dennoch hatte er sie oft zum Lachen gebracht, und das war viel hilfreicher als Mitgefühl. »Obwohl ich gerade darüber nachdachte, ob das Jennings Büro wohl jemals irgendeinen Kunden haben wird.«
»Natürlich wird es das«, versicherte er mit fester Stimme. »Es wird bestimmt eine Zeit dauern, bis es gut läuft, aber ich bin sicher, in einem Jahr wird es ein großer Erfolg sein, genau wie deine Holzgeschäfte früher und London Lil’s. Hab einfach Vertrauen!«
»Das hat Giles auch immer gesagt!«
»Und hat es funktioniert?«
»Manchmal«, sagte sie mit einem Lächeln.
James sah zum Himmel empor und legte seine Hände um seinen Mund. »Wenn du uns hörst, Giles, dann leg ein gutes Wort für Matty ein«, rief er.
Matilda lachte. »Ich glaube, er kümmert sich um Tabitha. Sie hat mir in ihrem letzten Brief geschrieben, dass sie Klassenbeste ist.«
»Peter ist auch sehr intelligent«, erwiderte James. »Er erzählte mir neulich von einem mathematischen Problem, von dem ich nicht einmal ansatzweise wusste, wie ich es hätte lösen können. Er jedoch konnte es. Er ist ein so hübscher Junge und nicht so linkisch wie die meisten Dreizehnjährigen. Außerdem muss man bedenken, was er in den vergangenen sechs Monaten alles durchgemacht hat.«
»Ich bin sehr froh darüber, wie gut er sich bei mir und in der neuen Schule eingelebt hat, auch wenn ich nicht sicher bin, ob er wirklich schon sehr stabil ist. Er reagiert oft sehr emotional auf Kleinigkeiten«, bemerkte Matilda.
»Der Tod eines nahe stehenden Menschen ist für viele ein Moment des Erwachens«, erklärte James. »Ich habe junge Soldaten erlebt, die an nichts anderes als an Alkohol und Gelage dachten, bis einer ihrer engsten Freunde getötet wurde. Sie sehen plötzlich, wie zerbrechlich das menschliche Leben ist, und werden erwachsen.«
»Vielleicht fühle ich mich deshalb manchmal so alt«, seufzte Matilda. »Ich sage mir zwar beständig, dass dreißig kein Alter ist, aber wenn ich an die Menschen zurückdenke, die viel jünger gestorben sind, gerate ich ins Zweifeln.«
Er schob ihren Hut nach hinten und blickte auf ihr Haar. »Ich sehe noch keine einzige silberne Strähne unter all dem Gold«, spaßte er. Dann zwang er sie, den Mund zu öffnen, und warf auch dort einen Blick hinein. »Und all deine Zähne sind noch da.«
»Nein, sind sie nicht.« Matilda lachte. »Ich habe Sidney letztes Jahr dazu gebracht, mir einen schmerzenden Zahn zu ziehen.«
»Das hat er für dich getan?«,
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