Lesley Pearse
sie in den schrecklichen Zellen des Bordells gefunden hatten. Inzwischen hatten sie alle zugenommen, und Bessie und Dora wurden langsam sogar rundlich. Mai Lings, Suzys, Angelinas und Marias schwarzes Haar hatte wieder neuen Glanz gewonnen, und ihre Haut leuchtete golden. Nur Ruth bereitete Matilda noch Sorgen, denn obwohl sie zugenommen hatte, zeigte sich in ihren Augen oft noch ein ängstlicher Blick, und sie zuckte bei jeder plötzlichen Bewegung zusammen.
Sie trugen alle ähnlich gestreifte Kleider, denn der Besitzer des Kurzwarengeschäftes in der Market Street hatte ihnen zwei Ballen Stoff geschenkt. Matilda hatte ihnen die Kleider von zwei Näherinnen anfertigen lassen, und wenn sie mit den Kindern draußen spazieren ging, hätte man sie auch für Mädchen aus einer Privatschule halten können. Obwohl einige der Nachbarn ihnen anfangs feindselig begegnet waren, weil sie solche Kinder nicht in ihrer Straße sehen wollten, entlockten sie den Passanten heute kaum noch mehr als einen neugierigen Blick.
Matilda sprach nacheinander mit allen Mädchen.
»Zu Hause in Philadelphia habe ich mal gesehen, wie eine Nähmaschine bedient wird«, berichtete Fern.
»Ich bin sicher, wir werden verstehen, wie die Maschine funktioniert, wenn wir uns das einmal gemeinsam ansehen«, entgegnete Matilda zuversichtlich.
Die Mädchen folgten ihr in Dolores’ Zimmer, wo Matilda sich hinsetzte, um sorgfältig die Bedienungsanleitung zu lesen. Nach ein paar Minuten hatte sie beide Fäden eingespannt, und Dolores brachte ihr einen Stoffrest, um die Maschine daran auszuprobieren. Matilda folgte der Anleitung, setzte den kleinen Fuß auf den Stoff und fing an, die Kurbel zu drehen. Als sich eine Reihe ordentlicher Stiche zeigte, erklärte Dolores die Maschine zu einem Wunder.
Auch die Mädchen probierten nacheinander ihr Glück, und als Matilda in all die aufmerksamen Gesichter blickte, erkannte sie, dass das eigentliche Wunder der Maschine nicht die Zeitersparnis beim Nähen war – die Nähmaschine hatte vor allem die ganze Gruppe zum ersten Mal mit einem gemeinsamen Interesse zusammengebracht.
»Wir könnten die Maschine einsetzen, um damit Geld für das Haus zu verdienen«, sagte Matilda aufgeregt zu Dolores, während die Mädchen sich beim Nähen noch abwechselten. »Wir könnten mit einfachen Dingen wie Schürzen beginnen und uns dann langsam an Kleider und Hemden wagen. Was hältst du davon?«
Dolores, die schon eine sehr begabte Schneiderin war, grinste breit. »Das könnten wir sicherlich, Ma’am. Sogar einen ganzen Haufen Geld werden wir damit verdienen können. Besonders mit Hemden für die Arbeiter, denn sie sind nicht so wählerisch, was den Schnitt angeht, solange die Kleidung robust ist. Außerdem können die Mädchen dabei etwas Sinnvolles lernen.«
Obwohl das Jennings Büro Matilda anfangs einige Sorgen bereitet hatte, entspannte sich die Situation im Frühling langsam, sobald die finanzielle Krise nachzulassen begann. Auf ihre Anzeige im Alta Chronicle hatten sich zunächst viele Mädchen bei ihr gemeldet, aber nur wenige potenzielle Arbeitgeber hatten ihr Stellen angeboten. Einige der jungen Frauen hatten schnell das Interesse verloren, als sie nicht sofort eine Anstellung für sie hatte finden können. Aber Matilda wollte nicht aufgeben, und es gelang ihr mit der Zeit, einige Arbeitgeber von ihrem Konzept zu überzeugen. Gegen eine geringe Provision war sie bereit, die passende Angestellte zu finden, womit sie den Auftraggebern zeitaufwändige Einstellungsgespräche abnahm.
Zuerst bekam sie einen Vertrag, um zwölf freie Stellen in einer neuen Zuckerfabrik zu besetzen, später brauchte eine Bäckerei zwei neue Angestellte, und schließlich war auch der Andrang der Privatleute groß, die nach Küchenhilfen und Mägden suchten.
Es war harte Arbeit. Die meisten Mädchen, die zu ihr kamen, konnten nicht lesen und schreiben. Sie mochten intelligent und gewillt sein, aber oft waren sie abgerissen, hungrig oder besaßen nur die Kleidung, die sie am Leibe trugen. Matilda zählte schon nicht mehr, wie viele sie zum Badehaus geschickt hatte oder wie oft sie ihnen zuerst ordentliche Kleider und ein Paar Schuhe hatte besorgen müssen, bevor sie auch nur daran hatte denken können, sie in eine Anstellung zu vermitteln. Manchmal brachte sie die jungen Frauen auch zum Heim in der Folsom Street, wo Dolores sie in wenigen Tagen auf die Dinge trainierte, die von ihnen erwartet werden würden.
Doch nach einiger Zeit lief es
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