Lesley Pearse
sah sie nichts, was ihr Angst machen könnte. Seeleute waren für sie Menschen wie ihr Vater, robust, stark und hundertprozentig verlässlich.
»Die Bewegung ist wunderbar«, schwärmte sie. »Es ist, als würde man ganz sanft gewiegt werden. Das da oben sind Segel, später werden die Seemänner sie an den Masten hochziehen, und wenn sich der Wind in ihnen fängt, werden wir uns bewegen. Du brauchst keine Angst zu haben. Captain Oates und seine Mannschaft werden auf uns aufpassen. Nun lass uns an die Reling gehen und winken. Dein Großvater, deine Großmutter und all deine Tanten und Onkel schauen zu. Du willst doch nicht, dass sie denken, du wärst noch ein Baby, nicht wahr?«
Tabitha hörte augenblicklich auf zu weinen. »Warum sind Großvater und Großmutter Woodberry nicht hier?«, fragte sie.
Matilda wusste nicht genau, wie sie diese Frage beantworten sollte. Lilys Eltern hatten sich während des gesamten Besuchs ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gegenüber sehr kühl verhalten. Sie hatte den Eindruck, die Woodberrys waren den beiden aus einem bestimmten Grunde nicht besonders zugetan. Selbst für Tabitha hatten sie sich nicht interessiert, und über Lilys vertrautes Verhältnis zu ihrem Dienstmädchen waren sie sogar zutiefst schockiert gewesen. Wenn nicht wenigstens Lilys Bruder Abel mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, ihr Onkel aus Bath mit seiner Familie sowie fast die gesamte Verwandtschaft Giles’ aus Bath zum Kai gekommen wären, wäre es wohl ein sehr trauriger Abschied geworden.
»Die Woodberrys sind schon sehr alt«, entgegnete Matilda vorsichtig, auch wenn sie sich immer noch ärgerte, wie sie von ihnen behandelt worden war. »Ich vermute, sie finden es zu anstrengend, sich in aller Öffentlichkeit zu verabschieden.«
Tabitha schien diese Antwort zu befriedigen, und sie lehnte sich in Matildas Armen nach vorne, um aufgeregt all ihren Verwandten zu winken.
Matilda war erleichtert, dass sie Tabby hatte beruhigen können, denn sie wollte an Deck den letzten Blick auf Bristol genießen. Die Stadt hatte sie in ihren Bann gezogen, und obwohl die Woodberrys sie wie einen verlausten Straßenhund behandelt und ihre Tochter Lily getadelt hatten, einem bloßen Kindermädchen das Gefühl zu geben, sie wäre von Bedeutung für irgendjemanden, hatte Matilda in dieser Woche genügend Zeit gefunden, diese aufregende und geschäftige Hafenstadt zu erkunden.
London hatte sie immer nur bis zu den Dörfern bei Hampstead in die eine Richtung und bis Barnes in die andere Richtung verlassen. Während ihrer Fahrt in der Postkutsche war sie über die Entfernung zwischen London und Bristol und die vielen, vielen Meilen Feld, das hügelige Gelände und den Wald ohne eine Menschenseele in Sichtweite erstaunt gewesen.
Giles hatte über ihre Unwissenheit gelacht und ihr erklärt, dass sie noch nichts gesehen hatte, bevor sie nicht die durchschnittlich vierunddreißig Tage andauernde Fahrt über den Atlantik nach Amerika erlebt haben würde. Als sie schließlich in Bristol angekommen waren, war sie vollkommen überrascht gewesen, dass die Menschen hier anders als die Londoner sprachen und die Stadt, von der sie wusste, dass sie über den größten Hafen in England verfügte, ein so schöner Ort war. Im Vergleich zu dem Londoner Hafen war es hier voller, bunter und lebendiger.
Vom Dampfer aus übersah sie jetzt buchstäblich einen Mastenwald; die Schiffe – große und kleine – hatten ihre Segel gehisst, um sie im warmen Sonnenschein trocknen zu lassen.
Die Gebäude am Meeresufer unterschieden sich sehr von den heruntergekommenen Hütten, die Matilda aus dem Londoner Hafen kannte. Es waren die feinen Häuser der Händler und Kaufleute, die, wie man ihr berichtet hatte, schon vor über zwei Jahrhunderten gebaut worden waren. Zusätzlich zu all dem Trubel und dem Lärm der Kutschen, Wagen und anderen Gefährte in den Straßen, konnte Matilda so viele verschiedene Leute sehen – Seeleute, Dockarbeiter, Händler, Gentlemen mit Zylindern, die das Beladen der Schiffe beaufsichtigten, und eine Menge schmutziger Kinder, die um die Menschen herumliefen.
Als das Boot weiter aus dem Hafen herausfuhr, wurden zwar die Gesichter der Winkenden undeutlicher, dafür konnte Matilda aber den Panoramablick auf die Häuser im oberen Bereich der Stadt genießen. Hier lebten die Menschen, die mit Wein-, Tabak- und Sklavenhandel Reichtum nach Bristol gebracht hatten. Jetzt, im hellen Sonnenlicht, nahm man die wunderschön gerundeten
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