Lesley Pearse
hat sie eine ganze Menge anderer Dinge zu erledigen. Und sie weint manchmal, weil sie traurig ist, England zu verlassen.«
»Aber warum? Wir werden doch alle zusammen gehen«, fragte Tabitha. »Außer Aggie. Warum kann Aggie nicht mitkommen?«
»Weil sie eine eigene Familie hat.« Matilda war insgeheim froh, dass Lily bald Aggies Einfluss entfliehen würde, denn die Haushälterin hörte nicht auf, ihrer Herrin beängstigende Gerüchte über Strafgefangene und Wilde in Amerika zuzutragen. »Ich vermute, wir werden eine amerikanische Haushälterin einstellen, da sie uns besser mit den Gewohnheiten des Landes vertraut machen kann und wir uns dann leichter zurechtfinden werden.«
Tabitha schwieg, bis sie den höchsten Punkt von Primrose Hill erreicht hatten. Wie immer blieben sie stehen, um den sagenhaften Ausblick zu genießen. Das klare Wetter ermöglichte ihnen eine beinahe unbegrenzte Sicht. Stumm nahm Matilda alles in sich auf. Das satte Grün des Regent’s Parks am Fuße des Hügels, die eleganten Kirchtürme, die über die ganze Stadt verteilt waren, das silbrige Schimmern der Themse, die aneinander gedrängten Häuser und Geschäfte. All diese Gegenden hatte sie als Blumenmädchen erkundet. Sie hatte damals die Menschen beneidet, die in den feinen Häusern wohnten, und diejenigen bemitleidet, die ohne Schutz auf der Straße leben mussten. Erst jetzt, da sie London verlassen und die Stadt vielleicht nie wiedersehen würde, wurde ihr bewusst, was für eine große Rolle London in ihrem Leben gespielt hatte und wie viel ihr die Menschen bedeuteten, die hier lebten. Sie dachte an ihren Vater, der wahrscheinlich gerade auf der Themse arbeitete, und an Dolly mit ihrer weißen Schürze im Teegarten. George lebte irgendwo hinter der Stadt glücklich mit den Gores zusammen, und Luke musste sich irgendwo im Osten befinden. Die See befand sich außer Sichtweite, aber Matilda fragte sich, welchen Kurs wohl James’ und Johns Schiffe gerade nahmen. Sie hoffte, sie würden einst nach London zurückkehren und ihren Vater besuchen.
»Ich liebe euch alle«, flüsterte sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich werde bald tausende von Meilen entfernt sein und euch vielleicht nie wiedersehen, aber ihr werdet immer in meinem Herzen sein.«
»Warum weinst du?« Tabithas helle Stimme brachte Matilda zurück in die Realität. Sie schaute zu der Kleinen hinab, die sie mit betroffenem Gesichtsausdruck beobachtete.
»Ich weine nicht, es ist nur der Wind, der mir das Wasser in die Augen treibt«, flunkerte Matilda und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Sie lachte und nahm das Kind auf den Arm. »Ich habe nur daran gedacht, wie wunderschön London von hier oben aussieht und wo unsere Familien wohl gerade sind.«
Tabitha schrie entsetzt auf, als die Druid sich langsam zu bewegen begann und vom Bristoler Kai ablegte. Sie wurde von Seemännern in Ruderbooten gezogen, die den dreihundertsechzig Tonnen schweren Dreimaster aus dem Hafen führen würden. Anschließend würde das Schiff von Pferden am Ufer den restlichen Weg bis zum Fluss Avon gezogen werden, durch die Stromschnellen bis zum Bristol Kanal, wo es schließlich Segel setzen würde. Giles hatte Matilda erklärt, dass die großen Schiffe wegen der starken Gezeiten Schwierigkeiten hatten, aus dem Hafen zu navigieren.
»Was ist los mit dir?«, erkundigte Matilda sich erschrocken und nahm Tabitha in die Arme. Sie schaute nervös zu den Milsons hinüber, die ein paar Meter neben ihr standen und damit beschäftigt waren, ihren Familienmitgliedern zu winken und ihnen in letzter Sekunde noch Botschaften zuzurufen. Lily war in den letzten Tagen viel fröhlicher gewesen, und Matilda wollte sie nicht schon unnötig alarmieren, bevor sie den Hafen überhaupt verlassen hatten.
»Ich mag das alles nicht«, weinte Tabitha an ihrer Schulter. »Ich will nach Hause.«
»Aber wir fahren doch nach Hause«, entgegnete Matilda und hob das Kind hoch, um ihm in die Augen zu schauen. »Ein neues Zuhause in einem neuen Land. Aber dieses Schiff wird für ein paar Wochen auch unser Zuhause sein. Wir sind ja bei dir. Es wird wie ein Urlaub sein.«
»Ich mag nicht, wie es sich bewegt.« Tabitha schmollte und schaute zu den hohen Masten, Segeln und zur Takelage hinauf. »Und das ganze Zeugs mag ich auch nicht.«
Da Matildas Erfahrungen hauptsächlich vom Leben an der Themse geprägt waren und sie mit unterschiedlichsten Booten bei jeder Wetterlage über den Fluss gefahren war,
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