Lesley Pearse
Häuserreihen so wahr, wie ihre Erbauer es beabsichtigt hatten, als stolze und sehr elegante Gebäude. Nur in Greenwich hatte Matilda bisher Vergleichbares gesehen.
Wenn sie nicht die Chance gehabt hätte, die Stadt zu erkunden, hätte sie vermutlich geglaubt, alle Straßen in Bristol wären so wunderschön wie die Charlotte Street, in der die Woodberrys lebten. Doch nur einen Fußmarsch von fünf Minuten entfernt war sie in ein Gewirr aus schmalen, feuchten Gassen geraten, in dem es nicht anders aussah als in der Rosemary Lane. Sie hatte halb nackte Kinder in den dunklen Türeingängen stehen sehen, und ihre getrübten Augen hatten das Elend ihres Lebens widergespiegelt. Soldaten, die im Krieg gegen Frankreich verletzt worden waren und nun als Krüppel ihr Dasein fristeten. Betrunkene, verwahrloste Frauen hatten in den Hausfluren gelegen, mit Babys in den Armen, ohne ihre Umgebung noch wahrzunehmen. Matilda war entsetzt und angewidert gewesen, doch sie hatte sich in Erinnerung gerufen, dass dies noch vor einem Jahr ein alltäglicher Anblick für sie gewesen war.
Es war ein ernüchternder Gedanke, dass sie nur durch puren Zufall aus den Slums gerettet worden war, weil Tabitha auf die Kutsche zugelaufen und sie selbst im richtigen Moment dort gewesen war. Ihr Leben hatte sich wie durch ein Wunder verändert, und sie hatte langsam vergessen, wie Hunger sich anfühlte, wie es war, im Schmutz leben zu müssen, und wie viele Damen und Herren die Augen von ihr abgewandt hatten, wenn sie ihnen Blumensträuße hatte verkaufen wollen.
Wenn ihr in Primrose Hill des Öfteren der Gedanke gekommen war, dass sie inzwischen selbst eine Dame war, weil sie gute Manieren gelernt hatte, sauberer als früher sprach und die Milsons sie wie eine Gleichberechtigte behandelten, hatten die reichen Woodberrys sie mit einem Ruck wieder in die Realität zurückgeholt. Sie war tatsächlich eine Dienerin, eine ziemlich niedrige sogar. Ihr war schlagartig klar geworden, dass ihr Wohlbefinden und ihre Sicherheit vollkommen von den Milsons abhingen. Wenn sie sie eines Tages nicht mehr mögen würden oder ihre Dienste nicht länger benötigten, könnte es ihr sehr leicht passieren, sich in einem solchen Slum wiederzufinden.
Sie hielt das strampelnde, aufgeregte Kind sicher in ihren Armen, schaute trotzig zu den Prachtbauten hoch und leistete einen Schwur: Nie wieder würde sie in einem Slum leben. Und sie würde auch nicht ihr Leben lang eine Bedienstete bleiben, nur solange es ihr gefiel. Man sagte, Amerika sei ein Land voller Chancen, und sie würde nach ihrer Chance Ausschau halten. Als ihr Vater sie damals verabschiedet hatte, hatte er zu ihr gesagt: »Schau nie zurück.« Von heute an würde sie nur noch nach vorne schauen – und aufwärts streben.
4. K APITEL
G iles Milson hielt Lily im Arm, als die Druid in die New Yorker Bucht einlief. »Geht es dir bei diesem fantastischen Anblick nicht gleich besser?«, fragte er.
Sie waren einundvierzig Tage auf See gewesen. Es war jetzt Mitte Juni, und an diesem Nachmittag schien die Sonne freundlich. Doch Lily war durch die Seekrankheit so geschwächt, dass sie nur fragen konnte, wann sie endlich andocken würden.
»Ich weiß es nicht genau, aber ich bin überzeugt, dass du in ein bis zwei Stunden sicher in deinem neuen Zuhause sein wirst. Bald wirst du an die Reise nur noch als seltsame Begebenheit zurückdenken.«
Matilda stand einige Meter entfernt mit Tabitha auf dem Arm und lächelte in sich hinein, als sie seine Worte hörte. Sie dachte, dass Lily es höchstens als »seltsame Begebenheit« empfinden würde, die einundvierzigtägige Reise überlebt zu haben.
Lily hatte beinahe im selben Moment angefangen, sich über Seekrankheit zu beklagen, in dem die Segel im Kanal von Bristol gehisst worden waren, und hatte sich auch die restliche Zeit der Überfahrt nicht besser gefühlt. Immer wieder hatten Matilda, Giles und der Captain sie überreden wollen, an Deck frische Luft zu schnappen, aber sie hatte nicht einmal einen Versuch gewagt und war stur in der stickigen Kabine geblieben. Selbst jetzt, da sie sich eigentlich über ihre Ankunft in New York freuen sollte, weinte sie nur an der Brust ihres Mannes.
Matilda wollte vor Aufregung am liebsten in Freudengeschrei ausbrechen, denn der Ausblick war beeindruckend. Der Hafen war riesig und voller Schiffe, deren Segel im Sonnenschein bunt leuchteten, sodass man sich an einen Maskenball erinnert fühlte. Kreischende Seemöwen kreisten über ihrem
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