Lesley Pearse
oder an die lange Seereise, und Lily stand vor lauter Angst kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
»Warum legen Sie sich nicht ein wenig hin?«, schlug Matilda vor. »Ich werde den Koffer noch einmal ausräumen.«
Lily zögerte. Sie war nicht nur müde, sondern vollkommen erschöpft. Seit Monaten hatte sie nicht mehr gut geschlafen, da sie sich um das sorgte, was ihnen bevorstand, und Giles schien sich nicht um ihre Verzweiflung zu kümmern. Matilda war die einzige Person, die ihre Ängste nachvollziehen konnte. Sie arbeitete mit Freude von morgens bis abends und erledigte nicht nur die Aufgaben, die man ihr aufgetragen hatte. Instinktiv wandte sie sich auch den Dingen zu, die außerdem noch benötigt wurden. Lily wusste, dass sie in Wahrheit viel mehr als ein Kindermädchen war – Ratgeberin, Kameradin, Freundin und sogar inzwischen Familienmitglied.
»Ich kann nicht die ganze Arbeit für dich liegen lassen«, entgegnete Lily kleinlaut. »Du hast schon so viel für mich getan.«
Die Dankbarkeit in Lilys Stimme berührte Matilda. »Es ist jetzt nicht mehr viel zu tun«, versicherte sie mit einem aufmunternden Lächeln. »Legen Sie sich etwas hin. Ich gehe mit Tabitha spazieren, damit es schön still im Haus ist.«
»Du bist wirklich ein liebes Mädchen.« Lily berührte impulsiv Matildas Arm. »Ich bin so froh, dass du mit uns kommen wirst.« Sie eilte davon und ließ Matilda mit vor Erstaunen geweiteten Augen zurück.
In drei Tagen würden sie die Kutsche nach Bristol nehmen, sodass Lily und Giles sich von ihren Familien verabschieden konnten. Eine Woche später würden sie ihre Reise vom dortigen Hafen aus beginnen. Matilda hoffte, dass Lily Mut fassen und sich sogar auf die abenteuerliche Fahrt freuen würde, sobald sie einmal unterwegs waren. Obwohl Matilda nach außen Enthusiasmus ausstrahlte, hatte sie auch ihre eigenen Zweifel und Bedenken. Als sie vergangene Woche in Barnes bei der Hochzeit ihres Vaters eingeladen gewesen war, hatte sie sich versucht gefühlt, einfach dort zu bleiben. Doch sie bezwang ihre Zweifel, indem sie sich sagte, dass Tabitha sie brauchte. Wenigstens würde sie ihr Leben lang die Erinnerung an das wunderschöne Fest in ihrem Herzen tragen können. An Dolly in ihrem hellgelben Kleid mit passendem Hut und an ihren Vater in einem geborgten Frack. Und an den kleinen George! Es hatte ihr so gut getan, ihn noch einmal wiederzusehen. Sie war überrascht gewesen, ihn in langen Hosen und einem sauberen Hemd mit ordentlich geschnittenem Haar zu sehen. Er hatte richtig erwachsen gewirkt, als er von seiner Arbeit als Fuhrmann berichtet hatte, davon, wie er die Pferde versorgte und wie sehr er die Familie Gore mochte. Ohne den Einfluss seines Bruders hatte er die Chance, sich zu einem ebenso ehrlichen und anständigen Mann wie sein Vater zu entwickeln.
Matilda nahm Tabitha mit auf einen Spaziergang, während Lily sich hinlegte. Es hatte den ganzen Tag geregnet, aber jetzt zeigte sich die Sonne, und die Luft roch frisch und sauber.
In nur einem Jahr hatte sich Tabitha von einem fröhlichen, strampelnden Kleinkind in ein recht ernsthaftes Mädchen verwandelt. Ihr Babyspeck war verschwunden und ließ sie ein wenig zu dünn erscheinen. Abgesehen von den wunderschönen braunen Augen ihres Vaters, glichen ihre sonstigen Züge jedoch eher ihrer Mutter. Aggie hatte kürzlich unfreundlicherweise bemerkt, dass sie sich nicht zu der Schönheit entwickeln würde, die ihre Eltern erwartet hatten, aber hübsch oder nicht, Matilda betete sie an. Sie war so aufgeweckt, sie hinterfragte alles, und mit nur dreieinhalb Jahren hatte sie bereits einen eigenen Kopf.
»Warum legt Mama sich wieder hin?«, wollte Tabitha wissen und runzelte die Stirn. Obwohl sie vor einem Jahr erst wenige Worte beherrscht hatte, redete sie inzwischen wie eine Erwachsene.
»Weil sie müde ist«, erklärte Matilda lächelnd. »Weißt du, es ist eine Menge Arbeit, wenn man eine so große Reise über den Ozean unternimmt, meine junge Dame.«
»Aber du und Aggie macht doch die ganze Arbeit«, gab Tabitha bestimmt zurück. »Sie arbeitet doch gar nicht viel. Sie weint immer nur.«
Matilda wusste, sie musste vorsichtig auf diese scharfsinnige Bemerkung reagieren. Tabitha neigte dazu, vor ihren Eltern zu wiederholen, was sie ihr erzählte.
»Nun, Aggie und ich sind Bedienstete«, sagte sie ruhig. »Das bedeutet, dass wir für die Arbeit, die deine Mutter uns aufträgt, bezahlt werden. Aber auch wenn sie nicht putzt, wäscht und kocht,
Weitere Kostenlose Bücher