Lesley Pearse
habe.«
»Reverend Milson ist vernünftiger als jeder Mann, den ich je getroffen habe«, gab sie zurück. »Und warum sollte uns jemand töten? Wir wollen schließlich nur helfen.«
Flynn schüttelte den Kopf, und seine blauen Augen sahen plötzlich traurig aus. »Oh, Matty«, seufzte er. »Du kannst nicht wissen, wie es dort ist. Wenn erst einmal bekannt wird, dass ihr kleine Kinder mitnehmt, werden sie Schlange stehen und ihre eigenen Kinder für Geld anbieten. Die Menschen in Five Points sind nicht nur arme Leute, sie sind der Abschaum der Gesellschaft. Ich kann dir gar nicht erklären, wie sie leben.«
»Das brauchst du auch nicht«, entgegnete sie. »Ich komme selbst aus einem der schrecklichsten Slums in London, und ich weiß genau, wie die Menschen dort leben. Es ist nur dem Schicksal und Reverend Milson zu verdanken, dass ich nicht mehr dort bin.«
Man sah ihm den Schock an. »Aber ich habe dich für ein Mädchen vom Lande gehalten«, gab er mit wenig mehr als einem Flüstern zurück.
Matilda wünschte, sie hätte einen Moment nachgedacht, bevor sie ihm von ihrer Herkunft erzählte. In ihren Ohren hatte es geklungen, als wäre sie eine ehemalige Prostituierte. Sie wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sie sich selbst stoppte. Warum sollte sie sich vor einem Mann rechtfertigen, der die Armen als den »Abschaum der Gesellschaft« bezeichnete?
»Ich vermute, dass du wohl dem irischen Königshaus entstammst?«, bemerkte sie leicht sarkastisch. »Die meisten Iren in London behaupten so etwas jedenfalls.«
»Du hast eine scharfe Zunge, Matty«, antwortete er, aber seine Augen blitzten amüsiert. »Vielleicht bin ich ja von königlichem Blut. Wir Iren haben mehr Kinder als alle Nationalitäten, die ich bislang kennen gelernt habe. Andererseits haben wir in Irland auch nichts anderes zu tun, als Kartoffeln zu ernten und Liebe zu machen.«
Matilda hatte schon viele gröbere Begriffe für Sex gehört, aber ›Liebe machen‹ klang in ihren Ohren so vertraulich, dass sie errötete und den Blick senkte.
Er lachte. »Trink deinen Tee, und iss deinen Kuchen«, meinte er. »Ich verspreche dir, dass ich dich heute nicht mehr in Verlegenheit bringen werde. Ich stamme auch aus einer sehr armen Familie; wir waren zwölf Kinder ohne Hoffnung auf einen Shilling. Der Hunger trieb mich nach Cork, um dort nach Arbeit zu suchen.«
»Wie alt warst du damals?«, fragte sie.
»Ungefähr zwölf, und ich hatte nichts im Kopf außer meinen Träumen. Glücklicherweise suchte ein Fischer dort einen Gehilfen, und bei ihm und seiner Frau habe ich zwei Jahre gelebt. Er konnte mich nicht bezahlen, doch wenigstens bin ich nicht verhungert. Man sagt, dass Fisch den Verstand anregt.« Er grinste. »Das scheint zu stimmen, denn ich habe bald herausgefunden, dass Irland nicht gut für mich ist, und das Land bald darauf verlassen.«
Matilda fragte sich schon die ganze Zeit, wie alt Flynn wohl war. Seine Bewegungen und sein schlanker Körper wirkten jungenhaft, dennoch deutete die erwachsene Art, in der er sprach, darauf hin, dass er um einiges älter sein musste, als er aussah.
»Du bist mit vierzehn direkt nach Amerika gegangen?«, bohrte sie. Lily hatte ihr einmal erklärt, es sei unhöflich, Menschen geradeheraus nach ihrem Alter zu fragen.
»Nein. Zuerst bin ich als Schiffsjunge auf See gefahren. Später bin ich nach England gegangen, habe dort auf einem Schiff angeheuert und bin vor drei Jahren hier angekommen. Ich war damals zweiundzwanzig. Ganze zehn Jahre, nachdem ich Galway verlassen hatte.«
»Und dann hast du in Five Points gelebt?«, hakte sie nach.
»Wenige leben dort freiwillig«, erwiderte er schulterzuckend. »Mir war Geld und Glück abhanden gekommen, das ist alles. Aber eigentlich hat es mir gut getan. Ich erkannte, wie das Leben auf der untersten Stufe aussehen kann, und habe mich herausgekämpft.«
»Womit verdienst du dein Geld?«, erkundigte sie sich vorsichtig. Was sie bislang über ihn erfahren hatte, klang nicht besonders gut. Er war zu alt für sie, ein Rastloser, und es war seltsam, dass sich ein Mann aus der Arbeiterklasse mit ihr am Nachmittag treffen konnte. »Und wo wohnst du?«
»Ich arbeite in einer Bar im Bowery«, erklärte er, »und wohne im gleichen Haus.«
Matildas Herz sank. Obwohl sie diesen Ort nicht kannte, wusste sie, dass es ein Vergnügungsviertel war, das von anständigen Leuten gemieden wurde. Zählte sie dies zu all den übrigen Dingen, die sie über Flynn erfahren hatte, war
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