Lesley Pearse
bleiben. Aber ich vermute, dass du dann in Schwierigkeiten gerätst, deshalb begleite ich dich besser nach Hause.«
Vor der Haustür in der State Street umfasste er ihre Hände. »Wann ist dein freier Tag?«, fragte er.
»Normalerweise freitags«, antwortete sie flüsternd, damit die Milsons sie nicht hörten und aus dem Fenster schauten.
»Wirst du dich mit mir treffen?«
Sie nickte und konnte nicht glauben, was sie da gerade tat.
»Ich werde zwischen zwei und drei Uhr am ›Tontine Kaffeehaus‹ sein«, erklärte er und strich ihr leicht über die Wange.
Als sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, ging Flynn O’Reilly so leichtfüßig davon, dass sie kaum seine Schritte hören konnte. Doch als sie die Tür öffnete, drehte er sich um und warf ihr einen Handkuss zu.
Matilda fragte sich, wie es ihr gelungen war, den Milsons gegenüber nichts von den Erlebnissen dieses Abends zu erzählen. Sie war ins Wohnzimmer gegangen, hatte ihnen berichtet, dass es ein gelungener Abend gewesen sei, und sich an den Nachtgebeten beteiligt.
Als sie mit fest geschlossenen Augen das Vaterunser sprach, hatten die Worte »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« zum ersten Mal eine wirkliche Bedeutung für sie. Sie wusste, dass sie Rosa und diesen fürchterlich aufdringlichen »Gentleman« eigentlich hassen sollte, aber wenn sie nicht gewesen wären, hätte sie Flynn nicht kennen gelernt.
Während sie später im Bett lag, flüsterte sie seinen Namen in die Dunkelheit, und als sie seinen Kuss noch einmal durchlebte, spürte sie, dass ihr gesamter Körper von einem unerklärlichen Feuer ergriffen wurde. »Daraus wird nichts Gutes entstehen«, warnte sie sich selbst. Aber die Tatsache, dass sie sechs Tage warten musste, bevor sie ihn wiedersehen konnte, schien ihr der schlimmste Aspekt zu sein.
7. K APITEL
M atildas Herz schien absurd laut zu pochen, als sie am Freitagnachmittag in Richtung »Tontine Kaffeehaus« ging. Ihr war unglaublich heiß, obwohl der Herbst plötzlich begonnen hatte und es sehr kühl geworden war.
Sie trug einen Strohhut, den Lily ihr geschenkt hatte, aber jetzt fragte sie sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, das dunkelblaue Hutband durch ein knallrotes zu ersetzen. War Rot nicht doch eine zu aufdringliche Farbe?
Es ist jetzt zu spät, um sich darum Sorgen zu machen!, dachte sie bei sich. Er wird dich nehmen müssen, wie du bist.
Sie hatte während der vergangenen Woche an fast nichts anderes als an Flynn denken können, obwohl sie sich ständig daran erinnert hatte, dass sie ihn nur bei Nacht und sehr kurz gesehen hatte und er sich vielleicht als hässlich, dumm oder gar verheiratet entpuppen würde. Seltsamerweise war es der Gedanke an eine mögliche Ehe, der ihr am meisten Angst machte.
Als sie am Haus der Arkwrights vorüberging, blickte sie zu den Fenstern empor. Sie fragte sich, ob Rosa vielleicht hinter den Vorhängen stand und sie beobachtete. Ob sie sich schämte?
Matilda war nicht zur letzten Bibelstunde gegangen, da sie dem Mädchen nicht noch einmal begegnen wollte. Dennoch hätte sie gern gewusst, warum Rosa sich so verhalten hatte. War sie so einfältig zu glauben, dass sie auf diese Weise einen Gentleman finden würde, der sich in sie verlieben und sie heiraten würde? Oder brauchte sie das Geld, um ihre Familie zu unterstützen? Welchen Grund sie auch immer haben mochte – Rosa hätte sie nie allein lassen dürfen, als die Situation zu eskalieren drohte.
Doch als Matilda um die Ecke bog und Flynn vor dem Kaffeehaus auf sie warten sah, vergab sie Rosa. Das Erste, was ihr an ihm auffiel, war, dass Flynn sogar noch besser aussah, als sie in Erinnerung hatte. Das Zweite, dass er sehr arm wirkte.
Dies überraschte sie am meisten, denn seine Stimme und seine selbstbewusste Art hatten sie glauben lassen, er käme aus gutem Hause. Sogar aus einem Abstand von zehn Metern sah sie, dass er den Anzug wohl gebraucht gekauft hatte, denn er war verschlissen und viel zu groß für Flynns schlanken Körper. Doch der graue Derbyhut, den er auf den dunklen Locken zurückgeschoben hatte, gab ihm ein anziehendes, verwegenes Aussehen, und das freudige Lächeln, das sein Gesicht erhellte, als er sie erblickte, zeigte, dass er ihre Aufregung teilte.
»Matilda!«, rief er und breitete die Arme aus, als wollte er sie an Ort und Stelle in aller Öffentlichkeit umarmen. Doch dann, als erinnerte er sich plötzlich, dass dies nicht ganz angemessen war, hielt er inne und
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