Lesley Pearse
hinauszugelangen, in die du hineingeboren wurdest.«
»Darüber bin ich bereits hinausgelangt«, meinte sie. »Von einer Blumenverkäuferin zum Kindermädchen ist es ein großer Sprung.«
»Das mag sein, aber wünschst du dir nicht mehr?«, wollte er wissen und hob eine seiner dichten Augenbrauen. »Du kannst nicht für immer Kindermädchen bleiben, zumindest nicht, wenn deine Herrin nicht noch ein Kind bekommt.«
»Aber ich bin mehr als ein Kindermädchen. Ich bin Haushälterin und helfe Reverend Milson mit den Waisenkindern.«
Er dachte einen Moment nach. »Mir scheint es, Matty, als bestünde dein gesamtes Leben nur aus dieser einen Familie«, sagte er schließlich und schaute ihr in die Augen. »Kann es sein, dass sie für dich einen Ersatz für deine eigene Familie darstellt? Denkst du jemals an Dinge, die nicht mit ihnen und ihrem Wohlergehen verbunden sind?«
»Natürlich«, erwiderte sie spitz. Sie hätte Flynn gern in seine Schranken verwiesen, doch ihr wurde plötzlich klar, dass sie in Gedanken tatsächlich immer bei den Milsons war. Erst seitdem sie Flynn getroffen hatte, waren ihre Gedanken ein wenig von ihnen abgelenkt worden. »Ich denke zum Beispiel an die Kinder in Five Points.«
»Die Kinder sind für dich ebenfalls mit dem Reverend verbunden«, warf er ihr vor. »Warst du schon mal irgendwo in New York, außer in der Kirche und an den Orten, an die sie dich geschickt haben? Hast du jemals Amerikaner kennen gelernt oder Immigranten aus anderen Ländern und bist bei ihnen zu Hause gewesen? Hast du außer dem Mädchen, mit dem du neulich ausgegangen bist, eigene Freunde gefunden?«
Seine spöttischen Fragen deuteten an, dass er glaubte, sie wäre in einem bürgerlichen, sehr britischen Ghetto gefangen. Und tatsächlich, in vielerlei Hinsicht hatte sich ihr Leben nicht verändert, seit sie Primrose Hill verlassen hatte. Sie wusste nicht viel mehr über das Land und die Amerikaner als bei ihrer Ankunft. Die Milsons gaben ihr vor, wen sie sah, was sie unternahm und mit wem sie sprach.
»Nein, das habe ich offenbar nicht«, gab sie zu und schämte sich plötzlich, dass sie dies noch nicht selbst erkannt hatte. »Aber du stellst es so dar, als wäre ich die Sklavin der Milsons. Das ist überhaupt nicht der Fall! Ich mag sie sehr gern, und sie behandeln mich wie ein Familienmitglied.«
»Wie großzügig von ihnen!«, entgegnete er lächelnd, doch sie bemerkte eine Spur Zynismus in seiner Stimme. »Aber glaubst du nicht, es ist langsam an der Zeit, über den Tellerrand deiner gemütlichen kleinen Welt zu schauen? Lauf doch mal über die Fifth Avenue, und wirf einen Blick in die prächtigen Villen. Erkundige dich nach reichen Leuten und danach, wie sie zu ihrem Wohlstand gekommen sind.«
Matilda war verwirrt. Er behauptete, Sklaverei zu hassen, und schien Leute mit Bediensteten zu verachten, dennoch bewunderte er die Reichen. Auf welcher Seite stand er?
»Das weiß ich bereits. Sie haben das Geld den Armen abgenommen. Ich bin überrascht, dass du dies akzeptieren kannst.«
»Oh, Matty«, seufzte Flynn. »Du missverstehst mich. Es ist ein genauso großer Fehler, alle Reichen für böse zu halten, wie alle Iren als faule Teufel zu bezeichnen, die lieber trinken als arbeiten. Natürlich gibt es solche Menschen, doch ich kenne viele, die hart arbeiten, ihr Geld sparen und es nach Irland senden, wo ganze Familien davon ernährt werden.«
»Bist du einer von ihnen?«, fragte sie.
»Ich arbeite hart, aber ich schicke mein Geld nicht zurück. Mein Vater würde es nur vertrinken und dann nach Hause gehen, um meine Mutter zu verprügeln. Deshalb spare ich, um einmal ein besseres Leben zu haben. Früher oder später wird mein Vater sich zu Tode getrunken haben, doch bis dahin wird es mir gut genug gehen, um meine Mutter nach Amerika holen zu können.«
Über diese unverblümte Antwort war Matilda ein wenig erschrocken. War er ein gefühlloser Mann, der sich nahm, was er brauchte, ohne dabei an das Leiden, das ihn umgab, zu denken? Oder war er ein einsichtiger Realist, der wusste, dass er akzeptieren musste, was er nicht ändern konnte?
Sie tranken weiter Tee, und Matilda erzählte ihm von ihrer Kindheit und ihrer Familie. Er war sehr interessiert und verstand es so gut, ihr die Dinge zu entlocken, dass sie bald genauer erklärte, wie sie bei den Milsons gelandet war, und von den lustigeren Aspekten berichtete, sich plötzlich in der englischen Mittelschicht wiederzufinden.
»Ich bin momentan weder Fisch
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