Lesley Pearse
wahrscheinlich Recht, was Rosa betrifft, und ich habe sowieso nicht den Wunsch, sie jemals wiederzusehen«, erklärte Matilda und schaute Lily offen an. »Aber die Entscheidung, wer meine Freundin sein darf und wer nicht, sollte ich wohl besser selbst fällen.«
»Matilda!«, rief Lily aus. Sie war vollkommen benommen, weil ihr Dienstmädchen es wagte, sie zurechtzuweisen. »Ich kann nicht glauben, dass du so mit mir sprichst.«
»Der Reverend und Sie haben so viel für mich getan, und ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar«, fügte Matilda ruhig, aber bestimmt hinzu. »Auch habe ich Tabitha und Sie lieb gewonnen und werde immer mein Bestes für Sie geben. Aber ich denke wirklich, dass ich auch eine Art eigenes Leben haben darf.«
»Geh zu Bett«, befahl Lily ihr. Etwas Angemesseneres fiel ihr nicht ein. »Wir werden uns am Morgen unterhalten. Vielleicht bist du dann wieder bei Sinnen.«
In ihrem Zimmer wurde Matilda erst klar, wie unverschämt sie sich verhalten hatte.
»Oh, Flynn, was hast du mir angetan?«, flüsterte sie zu sich selbst und schaute in den kleinen Spiegel auf ihrer Kommode. Im Kerzenlicht sah sie nicht anders aus als sonst. Als sie sich jedoch etwas eingehender betrachtete, entdeckte sie den Trotz in ihren Augen, und ihre Lippen verrieten Übermut. Ihr Kinn schob sich mit neuer Entschlossenheit nach vorne. Sie hatte sich nie für außergewöhnlich hübsch gehalten, doch heute konnte sie selbst sehen, dass sie etwas sehr Fesselndes an sich hatte. War Flynn für ihr verändertes Aussehen verantwortlich? Und war er es, der einen Samen des Widerstandes in ihr Herz gelegt hatte, mit dem sie gerade ihrer Herrin getrotzt hatte?
Aber war sie nicht furchtbar undankbar gewesen, nach allem, was die Milsons für sie getan hatten?
»Nein, das warst du nicht«, flüsterte sie entschlossen. »Du hast ihnen ihre Güte durch deine harte Arbeit tausendfach gelohnt, und außerdem verlangst du ja nichts Unrechtes von ihnen. Du wirst morgen nicht nachgeben. Wenn du nachgibst, wirst du für immer in der Rolle der dankbaren, bescheidenen Dienerin gefangen sein.«
Sie nahm die Bürste zur Hand, die Lily ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, und löste ihr Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Dann begann sie, sich zu kämmen, und bald sah ihr Haar im Kerzenlicht wie gesponnenes Gold aus. Der Anblick gefiel ihr. Matilda knöpfte das Oberteil ihres Kleides auf, zog es sich über die Schultern und betrachtete sich eingehend im Spiegel. Ihre Schultern waren eben, und das sanfte Licht glänzte auf ihrer weißen Haut. In einem Abendkleid würde sie so wundervoll aussehen, dass man den Unterschied zwischen ihr und einer Dame nicht erkennen könnte. Flynn hatte Recht, sie waren sich ähnlich, sie konnten beide für Leute von Stand durchgehen, wenn sie sich entsprechend kleideten. Aber bevor sie dies versuchen konnte, musste sie die Art von Selbstsicherheit und Fähigkeiten haben, die Flynn auszeichneten.
Sich für ihre persönliche Freiheit einzusetzen war ein guter Beginn.
»Ich möchte gern wissen, was in sie gefahren ist«, ereiferte sich Lily, als sie sich zu ihrem Mann ins Bett legte. »Sie hat noch nie auf diese Weise mit mir gesprochen, und ich verstehe nicht, wie du so daliegen kannst, als wäre überhaupt nichts geschehen.«
»Aber was sie gesagt hat, war nicht falsch, Liebes«, meinte er mit einem Seufzer und klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte. Er hatte seine Frau während ihrer Schimpftirade nicht unterbrochen, sondern lieber ihr wütendes Gesicht betrachtet. In solchen Momenten waren ihre Züge unendlich viel fesselnder, ihre Augen wurden dunkler, ihre Nasenflügel bebten, und ihre Wangen nahmen ein schmeichelndes Rot an. In Wahrheit wünschte er sich, dass sie sich öfter derart erhitzen würde, anstatt wie so oft in jene dunklen Stimmungen zu verfallen, die ihr ein unscheinbares, trauriges Aussehen verliehen. »Sie ist nur unser Kindermädchen, nicht unser Eigentum. Ich finde, sie hat das Recht auf ein Privatleben.«
»Aber im Vergleich zu anderen Mädchen in ihrer Position hat sie schon ein viel besseres Leben«, widersprach Lily und warf sich auf die Kissen.
»Das stimmt«, antwortete er sanft. »Doch sie leistet ja auch bessere Arbeit, oder nicht? Sie kocht, wäscht, geht einkaufen, kümmert sich um Tabitha und unterrichtet sie sogar. Wir kämen wirklich in Bedrängnis, wenn wir ein anderes Mädchen finden müssten, das all dies für zwei Dollar im Monat erledigen würde.«
»Aber
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