Lesley Pearse
wo hat sie diese neuen Einfälle her?«, beharrte Lily. »Irgendetwas muss heute passiert sein. Wenn sie nicht mit Rosa unterwegs war, wen hat sie dann getroffen?«
»Das ist nicht unsere Sache«, sagte Giles müde. »Vielleicht hat sie einen neuen Freund oder eine Freundin gefunden und uns aus einem bestimmten Grund noch nicht davon erzählen wollen.«
»Freund?«, rief Lily aus und setzte sich aufrecht hin. »Glaubst du, dass sie einen Freund hat?«
»Lily, beruhige dich«, bat Giles und legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Vor ein paar Wochen hast du dich noch schuldig gefühlt, weil sich ihr ganzes Leben nur um uns dreht. Du hast sie zu diesem Tanz geschickt, damit sie einen jungen Mann kennen lernen könnte. Nun, vielleicht ist sie inzwischen jemandem begegnet. Sie ist ein vernünftiges Mädchen und wird uns schon davon erzählen, sobald sie bereit dazu ist.«
»Wie sollen wir denn mit ihren Unverschämtheiten umgehen?«, fragte sie in einem kläglichen Tonfall, als sie merkte, dass ihr Mann nicht die Absicht hatte, das Mädchen zu verwarnen. »Wir können kein Dienstmädchen beschäftigen, das so mit uns spricht.«
»Schlaf eine Nacht drüber«, schlug er vor. »Denk einmal an all ihre guten Seiten, und wäge sie gegen die schlechten ab. Damit sollten wir eine Lösung gefunden haben.«
Am nächsten Morgen war Matilda um sechs Uhr in der Küche und gerade damit beschäftigt, den Ofen in Gang zu bringen, als sie Giles’ Schritte auf der Treppe hörte. Kalter Schweiß brach ihr aus. Vermutlich hatte Lily darauf bestanden, dass ihr Mann sie entlassen oder wenigstens für ihre gestrigen Unverschämtheiten zurechtweisen sollte.
Er war schon vollständig angezogen und trug seine Jacke über dem Arm. »Guten Morgen, Matty«, sagte er freundlich wie immer. »Ist das Wasser schon heiß?«
»Ich w-w-weiß nicht«, stotterte sie. Um ihre Verwirrung zu verbergen, drehte sie sich um und legte eine Hand auf den Wassertank beim Ofen.
»Es muss nur heiß genug zum Rasieren sein. Ich will dich nicht darin kochen«, fügte er hinzu.
Matty lachte nervös über seinen kleinen Witz. »Dann ist es genau richtig«, erwiderte sie.
»Ich muss heute nach New Jersey fahren«, erklärte Giles. »Möchtest du mich begleiten und die Kinder wiedersehen?«
Matildas Herz schlug vor Aufregung schneller, aber ihre Freude wurde sofort gedämpft, als sie an ihre Herrin oben im Schlafzimmer dachte. »Wie könnte ich, Sir? Sie wissen doch sicher, dass Madam böse auf mich ist, und außerdem muss ich auf Tabitha aufpassen.«
Er lächelte, und seine dunklen Augen blitzten. »Manchmal ist ein Rückzug wirksamer als ein offener Kampf.«
Sie verstand, dass Lily ihm alles erzählt haben musste, aber offenbar hatte er sich nicht auf ihre Seite ziehen lassen, sondern war neutral geblieben. Andernfalls wäre er wohl kaum so guter Stimmung gewesen.
»Ich kann mich nicht entschuldigen, weil ich meinte, was ich gesagt habe«, platzte Matilda heraus. »Aber es tut mir Leid, wenn ich undankbar gewirkt haben sollte.«
»Matty!«, rief er aus und schüttelte den Kopf. »Was mich betrifft, sind Entschuldigungen überflüssig. Du hast gestern Nacht deine Meinung geäußert und musst jetzt dabei bleiben. Wahrscheinlich wird sich Mrs. Milson die nächsten Tage dir gegenüber etwas kühl verhalten, doch letztendlich wird sie sich damit abfinden. Gib mir jetzt bitte etwas Wasser. Und könntest du uns beiden Frühstück zubereiten? Ich möchte gern früh das Haus verlassen.«
Matilda war überglücklich, die Kinder aus Five Points glücklich und wohlbehalten wiederzusehen. Sidney begrüßte sie stürmisch und zeigte ihr stolz, wie er und ein paar andere Jungen dem Heimangestellten Job geholfen hatten, einen Acker umzugraben, damit sie bald eigenes Gemüse anbauen konnten. Er sprach sogar freundlich von Miss Rowbottom und erklärte, dass sie sich den Kindern gegenüber »anständig genug« verhielt. Alle Kinder hatten in den vergangenen zwei Wochen zugenommen, ihre Gesichter hatten ihre frühere Hohlwangigkeit verloren, und sie hatten alle gelernt, zu spielen und zu lachen.
Miss Rowbottom gewann langsam die Zuneigung der Kinder. Sie war zwar streng, aber niemals ungerecht oder grausam und hatte allen Kinder zu einer routinierten Regelmäßigkeit verholfen. Morgens mussten sie im Haushalt helfen, und die Nachmittage waren dem Unterricht vorbehalten. Sie gab zu, dass Sidney ihr eine große Hilfe war, weil die kleineren Jungen zu ihm aufsahen
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