Lesley Pearse
viele Frauen ihren Körper verkauften. Fast jeder andere Mann seines gesellschaftlichen Standes glaubte, dass solche Frauen niedrige Wesen ohne Moral wären. Eine ›anständige‹ Beschäftigung für eine Frau bedeutete aber oft eine Arbeitswoche mit sechzig Stunden für weniger als einen Dollar am Tag. Es bedeutete auch, dass sie ihre Kinder hungrig und frierend allein zu Hause lassen musste. Matilda war sich ziemlich sicher, dass auch sie selbst in einer solchen Situation versucht sein würde, als Prostituierte zu arbeiten, wie abstoßend die Vorstellung auch sein mochte.
»Auf dem Lande gibt es Farmer, die verzweifelt nach jungen Ehefrauen suchen«, bemerkte sie und wiederholte, was Flynn ihr einmal erzählt hatte. »Sie geben jede Woche Anzeigen in den Zeitungen auf. Meinen Sie, ich sollte Cissy mal darauf hinweisen?«
»Hast du die Anzeigen gelesen, um selbst einen Mann zu finden?« Er lachte und kniff ihr liebevoll in die Wange. »Das hast du überhaupt nicht nötig, Matty, du brauchst nur mit der Wimper zu zucken, und schon stehen die Männer Schlange.«
Matilda errötete. Seit sie Giles mit den Waisenkindern half, war sie langsam seine Vertraute geworden. Ihr gegenüber äußerte er seinen Ärger über die rücksichtslose Gesellschaft, in der sie lebten. Seine Träume von besseren Wohnungen für die Armen, von gleichen Rechten für die Frauen und der Abschaffung der Sklaverei fanden bei ihr Anklang. Im Gegenzug teilte Matilda mit ihm ihre Kenntnis des Lebens in den Slums. Sie erklärte ihm, was es bedeutete, arm und benachteiligt zu sein, und hatte ihm die Augen für die Probleme der Menschen geöffnet.
Dennoch war es ihr bislang nicht möglich gewesen, ihm von Flynn zu erzählen, obwohl sie nicht verstand, warum sie es nicht konnte. Wahrscheinlich würde Giles es zwar nicht begrüßen, dass Flynn in einer Bar arbeitete, dennoch neigte er nicht dazu, Menschen zu verurteilen, bevor er sie überhaupt kennen gelernt hatte. Sein einziger Anspruch an einen Mann für Matilda war sicherlich, dass er respektabel war, sie liebte und sich um sie kümmern konnte.
Matilda war davon überzeugt, dass Flynn dies konnte, doch vielleicht lag dies auch an ihren tiefen Gefühlen für ihn. Nur zu sagen, dass sie ihn liebte, war keine ganz passende Beschreibung für ihre Empfindungen. Es war wie eine Leidenschaft, die in ihrem Innern wütete und bei jedem Treffen mit ihm mehr verlangte. Mehr Küsse, mehr Berührungen, mehr gemeinsame Zeit. Manchmal wurde dieses Verlangen so groß, dass sie sich kaum zurückhalten konnte. Dann gab sie sogar Lily und Giles die Schuld an ihren Gefühlen, denn wenn sie Flynn vor ihnen nicht verstecken müsste, würde diese Liebe ihr nicht so verzweifelt aussichtslos erscheinen.
»Es wäre sinnlos, einen Mann zu suchen«, gab sie zurück. Sie wollte hinzufügen, dass Lily sicher an jedem Mann etwas auszusetzen hätte, konnte sich aber im letzten Moment noch zurückhalten. »Ich hätte gar keine Zeit, mich um ihn zu kümmern«, murmelte sie stattdessen und verschwand in der Küche, um das Frühstück vorzubereiten.
Giles blieb noch einen Moment am Fenster stehen und wunderte sich über ihre scharfen Worte. Beschwerte sie sich darüber, zu wenig Freizeit zu haben? Oder war es mehr?
Eigentlich bezweifelte er, dass Matilda sich schlecht behandelt fühlte, dies lag einfach nicht in ihrer Natur. In den vergangenen Monaten hatte er jedoch einige Dinge beobachtet, die darauf hindeuteten, dass sie ihnen etwas verschwieg. Von ihren freien Nachmittagen kehrte sie stets mit geröteten Wangen zurück, und er glaubte nicht, dass ein Treffen mit anderen Bediensteten oder ein Schaufensterbummel eine solche Aufregung hervorrufen würden. Manchmal äußerte sie auch scharfsinnige Ansichten über die sozialen Verhältnisse in Amerika, die sie nicht nur durch reine Beobachtung oder Zeitunglesen aufgeschnappt haben konnte. Aber Giles hatte nie versucht, sie auszufragen. Er erwartete, dass sie ihm davon erzählte, sobald sie bereit dazu war.
Als Matilda die Eier für das Frühstück in die Pfanne schlug, war sie den Tränen nahe. Sie traf sich nun schon seit fünf Monaten mit Flynn, und obwohl sie die seltenen wertvollen Stunden mit ihm genoss, war sie manchmal so frustriert, dass sie sich wünschte, sie hätte ihn nie kennen gelernt. Die Nachmittage in den Teehäusern waren ihnen beiden nicht mehr genug. Sie sehnten sich nach einem stillen Ort, an dem sie allein sein konnten.
Während ihrer langen Gespräche
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