Lesley Pearse
wirkliche Lady.« Ihre grünen Augen waren voller Tränen. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich werde dich nicht enttäuschen und nie vergessen, was du für mich getan hast.«
Erst als Cissy auf ihrer Matratze eingeschlafen war und Matilda das Licht gelöscht hatte, kam ihr Flynn wieder in den Sinn. Sie hatte den ganzen Tag über jeglichen Gedanken an ihn erfolgreich verdrängt und sich eingeredet, es wäre sehr viel wichtiger, Waisen zu retten, als sich mit einem jungen Mann zu treffen. Aber jetzt, allein in der Dunkelheit, konnte sie daraus keinen Trost mehr schöpfen. Wenn Flynn und sie wirklich nicht füreinander bestimmt waren, warum hatte sie sich dann überhaupt in ihn verlieben müssen? Denn sie wusste, dass sie ihm verfallen war, ihr Körper und Geist sehnten sich nach ihm.
Am Sonntagmorgen wachte Matilda sehr früh auf. Es war noch dunkel, und sie konnte die Nebelhörner aus der Bucht tönen hören. Heute würde sie nach dem Gottesdienst den restlichen Tag zu ihrer freien Verfügung haben. Sie freute sich nicht darüber, denn sie wusste nicht, womit sie sich allein den ganzen Tag beschäftigen und wie sie ihre Gedanken von Flynn fern halten sollte. Wenigstens schien Lily ihr endlich vergeben zu haben. Als sie am Vorabend mit Giles aus dem Heim wiedergekehrt war, hatte Lily sich sehr um sie bemüht, weil sie verfroren und völlig erschöpft waren. Auch hatte sie begonnen, sich mehr für das Heim zu interessieren. Sie wollte einen Nähzirkel in der Gemeinde einrichten, um Kleidung für die Kinder herzustellen.
Giles war über Lilys Anteilnahme gerührt gewesen. Er glaubte, Mrs. Kirkbright würde ihr ohnehin berichten, dass sie auch eine junge Frau in das Heim gebracht hatten, und deshalb hatte er ihr von Cissy und den zwei Säuglingen erzählt. Er hatte nichts von dem Keller und Cissys früherem Gewerbe erwähnt, sondern sich mehr auf ihre mütterliche Zärtlichkeit und ihre Liebe für das Kind ihrer verstorbenen Freundin konzentriert. Eindeutig stellte sich Lily das Mädchen als verführtes und später verstoßenes Dienstmädchen vor, und sie lobte ihren Mann für seine Güte.
Matilda hatte es beinahe lachhaft gefunden, dass ihre Herrin nur Mitleid mit einer unverheirateten Mutter haben konnte, weil sie sich Cissy als anständig gekleidetes Mädchen mit zwei gesunden, wohl genährten Kindern an der Brust vorstellte. Wäre Cissy ihr jedoch jemals bettelnd und in Lumpen gekleidet auf der Straße begegnet, hätte sie sicher angewidert den Blick abgewandt.
Es hatte sich herausgestellt, dass es für alle gut gewesen war, Cissy mit in das Heim zu nehmen. Die Kinder hatten in ihrer Begleitung keine Angst gehabt, mit auf die Fähre zu gehen, und keines der Kleinen war seekrank geworden. Miss Rowbottom war zwar anfangs nicht gerade begeistert gewesen, die Verantwortung für eine junge Mutter mit zwei Säuglingen tragen zu müssen, aber bereits nach einigen Stunden war sie einverstanden gewesen, denn sie hatte gesehen, dass die Kinder der jungen Frau bedingungslos gehorchten.
Als Matilda im Bett lag, fragte sie sich, wie aus einem verlassenen Mädchen wie Cissy eine so liebende und besorgte Mutter hatte werden können. Giles meinte, dass Gott dafür verantwortlich sein musste, aber Matilda fand dies unsinnig. Ihr erschien Gott eher als gleichgültiger Geselle, der Unglück gleichermaßen auf Gläubige wie Ungläubige herniederschickte. Er gestattete den Menschen, sich auf Kosten der Armen zu bereichern, und erlaubte den Bösen, die Gerechten zu unterdrücken. Er hatte sie sogar jeder Möglichkeit beraubt, Flynn jemals wiederzusehen.
Als sie gegen acht Uhr den Frühstückstisch in der Küche deckte, hörte sie den Eismann die Straße hochfahren. Sie hatte gerade den Brotkorb auf den Tisch gestellt, als er die Haustür erreicht hatte und anklopfte. Matilda öffnete, und zu ihrer Überraschung war es Flynn, der vor der Tür stand und den in Tücher gewickelten Eisblock vor der Brust hielt.
»Flynn!«, rief sie aus. »Was machst du hier?«
»Nach dir suchen, was sonst?«, gab er grinsend zurück. »Und ich werde nicht gehen, bevor du mir erklärst, warum du am Freitag nicht zu unserem Treffpunkt gekommen bist.«
Matilda drehte sich nervös zum Wohnzimmer um. »Ich musste mit dem Reverend nach Five Points gehen«, flüsterte sie. »Ich konnte dir nicht Bescheid geben, da ich nicht wusste, wo du wohnst.«
Sein Lächeln war so breit wie die Bucht von New York. »Es hat sich also gelohnt, dass ich den Eismann mit
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