Lesley Pearse
war der Unterschied zwischen ihren beruflichen Stellungen noch deutlicher geworden, und die Probleme erschienen schier unüberwindbar. Manchmal, wenn sie nachts wachlag und seine leidenschaftlichen Küsse noch einmal durchlebte, stellte sie sich vor, wie er gerade in der Bar arbeitete, Bier ausschenkte und mit den Gästen plauderte. Er würde noch immer Getränke ausschenken, wenn sie fest eingeschlafen war. Am frühen Morgen, während sie aufstand, den Ofen ausfegte und den Frühstückstisch deckte, lag er gerade erst im Bett. Auch seine Religion unterschied sich von ihrer, denn sie wusste jetzt, dass er Katholik war. Wenn er wenigstens sonntags in die Trinity Church kommen könnte, würde Lily vielleicht darüber hinwegsehen, dass er in einer Bar arbeitete, und ihm erlauben, Matilda an ihrem freien Nachmittag auszuführen. Aber Flynn nahm seine Religion sehr ernst, und obschon für Matilda eine Konfession so gut wie die andere war, war er anderer Ansicht.
Allerdings pflegte Flynn über die meisten Dinge anders zu denken als seine Mitmenschen. Er lachte über die bürgerlichen Klassen und bezeichnete deren Angehörige als Heuchler. Die Armen waren seiner Meinung nach einfallslos und nicht wagemutig genug, und er verachtete diejenigen, die Reichtum geerbt hatten. Er glaubte, vollkommen einzigartig zu sein, ein freier Geist, der sich niemals auf einen verhassten Job oder einen Ort festlegen lassen würde.
Obwohl diese Ansichten für Matilda zu seinem Charme gehörten, gaben sie ihr auch Grund zur Sorge, denn eine Ehe bedeutete für sie Sicherheit und Seelenruhe. Doch Flynn hatte sie ausgelacht, als sie diese Gedanken geäußert hatte; er meinte, das Leben müsste ein Abenteuer sein, sie sollte Vertrauen in seine Fähigkeiten haben. Er behauptete, im Frühling genügend Geld gespart zu haben, um eine Bootsfahrt nach Charleston bezahlen zu können. Sobald er dort einen Job gefunden haben würde, sollte sie nachkommen, und sie würden endlich heiraten können.
Matilda war selbst immer überrascht, wie bedingungslos sie an ihn glaubte, wenn sie zusammen waren. Sie sah sich schon vom Boot steigen, heiraten und mit Flynn in einem wunderschönen weißen Holzhaus leben.
Doch sobald sie wieder zu Hause war, meldeten sich Zweifel. Wenn Flynn nun keinen Job finden würde und sich die erwarteten Reichtümer niemals einstellten? Statt in einem weißen Holzhaus würden sie vielleicht in einer heruntergekommenen Hütte leben müssen. Es war möglich, dass sie wie viele andere Frauen endete und jedes Jahr ein Kind auf die Welt brachte, ohne genügend Geld zu haben, sie zu ernähren. Möglicherweise würde Flynn sogar verbittert werden und zu trinken anfangen?
Matilda sagte sich zwar täglich, dass sie nicht für immer bei den Milsons bleiben konnte und sich ein eigenes Leben wünschte, doch erschien es ihr hart, Tabitha zu verlassen. Auch glaubte sie nicht, dass Flynn bislang verstanden hatte, was Lily und Giles ihr inzwischen bedeuteten.
Sie glaubte, viele dieser Zweifel würden sich auflösen, wenn sie nur mehr Zeit mit Flynn verbringen dürfte. Sie hatte bislang lediglich eine seiner Seiten kennen gelernt: den gut aussehenden, leidenschaftlichen Mann, der sie zum Lachen brachte, ihr Geschichten erzählte und sie so bezauberte, dass sie nicht nach Fehlern suchte. Doch wenn sie nachts allein in ihrem Zimmer war, wurde ihr immer wieder bewusst, wie wenig sie über ihn wusste. Er sprach selten über seine Vergangenheit oder über seine Familie und Freunde. Nach dem, was sie wusste, könnte er ein Gauner sein, der aus Irland hatte fliehen müssen. Wenn sie ihn bei seiner täglichen Arbeit sehen, mit ihm ausgehen und Spaß haben könnte, würden sich ihre Bedenken vielleicht für immer in Luft auflösen. Doch nur eine Art Wunder würde ihr diese Chance ermöglichen.
Das Wunder ereignete sich bald nach Ostern. Matilda wachte eines Morgens auf und merkte, dass die Sonne schien und ein deutlicher Frühlingsduft in der Luft hing. Als sie in den Garten ging, sah sie Knospen in der Hecke, die das Haus umrankte, und hörte neben dem üblichen Geschrei der Seemöwen Vogelgezwitscher.
Sie bereitete Pfannkuchen zum Frühstück zu, und sowohl Giles als auch Lily schienen ungewöhnlich guter Dinge zu sein. Matilda glaubte, sie müssten alle vom Frühlingsfieber angesteckt worden sein, als Giles Tabitha neckte, weil sie inzwischen so viel aß. Gerade als sie den Tisch abräumen wollte, verkündete er, er habe ihr etwas mitzuteilen.
»Wir
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