Letale Dosis
Die liebevoll gepflegten Blumen strahlten in vollem Glanz, der Steingarten, den sie nach ihren eigenen Vorstellungen selbst angelegt hatte, war ihr ganzer Stolz. Sie freute sich, es geschafft zu haben, sich dieses Haus leisten zu können, in dem ihr niemand Vorschriften machte, was sie zu tun und zu lassen hatte. Viel zu viele Jahre hatte sie die Drecksarbeit für andere machen müssen, seit einigen Jahren aber war sie ihr eigener Herr. Sie bestimmte, was sie tat, wie sie es tat und wann; sie bestimmte über ihr Leben und ließ nicht mehr zu, daß irgendein anderer ihr hineinredete.Sie dachte an Hauser, an Schönau und Rosenzweig, an Fink.
Noch zwei Stunden, mein Lieber, und du wirst deinen Partnern Gesellschaft leisten,
dachte sie mit unergründlichem Lächeln, das melancholisch und zynisch zugleich wirkte, traurig und doch irgendwie froh. Noch zwei Stunden, und sie würde auch den letzten derjenigen bestraft haben, die ihr Leben, und nicht nur ihres, ruiniert hatten. Sie hatte sie geschlagen, besiegt, wo sie sich doch für unbesiegbar, vielleicht sogar unsterblich hielten. Aber sie hatten erkennen müssen, daß Unsterblichkeit ein Wunschtraum war, der nie erfüllt werden würde. Sie war überzeugt von einem Leben nach dem Tod, doch sie hatte keine Vorstellung davon, wie das Leben nach diesem Leben aussah. Sie dachte auch an Petrol, den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte. Doch auch er hatte sie enttäuscht, hintergangen, belogen und betrogen. Als sie es herausgefunden hatte, war nur unendliche Trauer und Leere in ihr gewesen. Eine Leere, die nie ein Mensch verstehen würde. Eine so umfassende, tiefe Schwärze, ein Loch, in das sie einfach hineingefallen war. Und sie wußte, Petrol hätte sie verraten, und das durfte sie unter gar keinen Umständen zulassen. Sie bedauerte, daß sie auch ihn hatte töten müssen, diesen großartigen, zu allem bereiten Liebhaber, doch hätte sie es nicht getan, könnte sie wahrscheinlich nie wieder in diesem Garten stehen und den Duft der Blumen und Sträucher einatmen, barfuß durch den Morgentau auf dem Gras gehen, das sanfte Kribbeln an ihren Füßen spüren; nie mehr in Ruhe und Frieden auf ihrem Sessel sitzen, die Beine hochgelegt, und einfach abschalten und den Tag Revue passieren lassen. Und sie würde nie mehr in die Klinik fahren können, um
sie
zu besuchen.
Sie
, die einzige, die wahrscheinlich jemals Liebe für sie empfunden hatte, doch selbst diese –
ihre
– Empfindung hatte man brutal zerstört. Sie hatten alles an und in ihr zerstört, dabei war sie noch so jung gewesen, so unschuldig und naiv, als es passierte. Und jetzt war sie gerade einmal AnfangFünfzig, das Hirn kaputt von Alkohol und Tabletten, der Körper ruiniert, ein Wrack, das seit Jahren Tag für Tag in mumienhafter Starre vor dem Fenster auf dem Rollstuhl saß und hinausblickte in eine Welt, die sie nicht mehr wahrnahm, nicht mehr kannte. Sie lebte noch, doch das Leben hatte jeden Sinn verloren. Ihre Augen strahlten nicht, wie sie früher gestrahlt hatten, sie waren tot und leer, ihr Mund ein blasser Strich, der sich kaum abhob vom Grau der Haut, die wie altes Pergament ihre mageren Knochen umgab.
Am Mittwoch würde sie wieder hinfahren, um sie zu besuchen, ein paar aufmunternde Worte in ihr Ohr flüstern, sie streicheln. Es war doch sonst niemand da, der ihr wenigstens ein klein wenig körperliche Wärme gab, sie wie einen Menschen behandelte. Die Pfleger und Schwestern taten zwar ihr Bestes, aber sie konnten ihr keine Liebe geben. Sie konnten sie wickeln, sie füttern, sie ins Bett legen, aber Liebe konnten sie ihr nicht schenken. Wie auch, war sie doch nur eine Patientin unter vielen auf dieser geschlossenen Station, eine unter vielen verrückten, depressiven, vom Leben dort abgestellten Frauen. Sie war die einzige auf der Station mit dem Korsakow-Syndrom, die einzige, die nie redete, nie Gefühle zeigte, nie lachte, nie weinte, nie von ihren Erinnerungen sprach, von ihrer Jugend, ihrer ersten großen Liebe, ihrem ersten und einzigen Verhängnis. Korsakow und Schlaganfall – der Körper und der Geist hatten einfach schlappgemacht.
Die junge Frau ging zurück zum Haus, blieb auf der Terrasse stehen, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Sie lächelte nicht mehr, ihr Gesichtsausdruck war ernst und entschlossen.
Fink
, dachte sie,
du bist das größte Dreckschwein von allen. Du hast es wahrhaftig nicht verdient, länger zu leben. Erst wenn du nicht mehr bist, wird Ruhe einkehren und dann
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