Letale Dosis
selbst. Ihre Wünsche und Ihre Bedürfnisse sollten an erster Stelle stehen. Sie werden sehen, wer Ihre wahren Freunde sind, wenn Sie selbstbewußt auftreten und nicht mehr zu allem Ja und Amen sagen. Sagen Sie auch einmal Nein, vertreten Sie Ihren Standpunkt, auch wenn er vielleicht in den Augen anderer revolutionär erscheint. Es liegt an Ihnen, Ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der Tod ist immer ein Neuanfang, ganz gleich, ob es der eigene Tod ist oder der eines uns nahestehenden Menschen. Und wenn es um Selbstbewußtsein geht, ich kenne eine Menge Wege, die helfen, es zu stärken.«
Marianne Rosenzweig lächelte, sagte: »Ich glaube, es ist zu früh für mich, darüber nachzudenken. Ich muß erst mit der Vergangenheit abschließen, bevor ich darüber nachdenken kann, mein Leben neu zu gestalten. Aber ich weiß, Sie haben im Grunde recht. Ich habe mich all die Jahre über tatsächlich wie eine Marionette gefühlt, vor allem in den letzten drei, vier Jahren. Meinen Sie denn, ich kann das abstellen? Meinen Sie wirklich, ich werde eines Tages mein eigener Herr sein und all den Ballast, der auf meinen Schultern lastet, abstreifen können? Glauben Sie das?«
»Ich glaube es nicht nur, ich bin sogar überzeugt davon, vorausgesetzt, Sie denken in erster Linie einmal an sich. Sie haben etwa die Hälfte Ihres Lebens damit zugebracht, für andere dazusein, die andere Hälfte sollte Ihnen gehören. Genießen Sie das Leben, Sie haben es verdient. Was nicht heißen soll, jetzt von einem Extrem ins andere zu verfallen, das heißt von absoluter Selbstlosigkeit in absoluten Egoismus. Wichtig ist, wie ich bereits betont habe, ein Gleichgewicht zu schaffen, und wenn Ihnendies gelingt, werden sich Ihre Lebensängste in nichts auflösen. Sie werden keinen Therapeuten mehr benötigen. Ihre Zukunft liegt in Ihrer Hand. Und mit Gottes Hilfe werden Sie es schaffen.«
Sabine Reich nahm einen weiteren Schluck von ihrem Tee, stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Für eine Weile sagte keine der beiden Frauen etwas, Marianne Rosenzweig schien zu überlegen, betrachtete dabei unentwegt ihre Hände. Das Telefon klingelte, Sabine Reich erhob sich, ging an den Apparat, meldete sich.
»Reich.«
»Hallo, ich bin’s …«
»Ich bin mitten in einer Sitzung. Kannst du in zwanzig Minuten noch mal anrufen?«
»In Ordnung, das läßt sich machen. Bis gleich dann.«
Sabine Reich begab sich zurück zu ihrem Platz, sah Marianne Rosenzweig an.
»Verzeihen Sie die Unterbrechung, ich habe vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten.«
»Macht nichts, ich glaube, ich sollte jetzt sowieso besser gehen.«
»Sie haben schon wieder Angst, stimmt’s? Wovor?«
»Vor der Zukunft – und vor meiner eigenen Courage.« Frau Rosenzweig veränderte zum ersten Mal während dieser Sitzung ihre Haltung, fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. »Es stimmt, was Sie gesagt haben, es kommt vor, daß ich meine ganze Unzufriedenheit aus mir herausschreien und dieser Ungerechtigkeit endlich ein Ende setzen möchte. Nur, ich konnte es nie, ich konnte bis vor kurzem nicht einmal weinen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich als Kind je geweint habe. Ich weiß nur, irgendwann kamen die Ängste. Und ich bin ihnen so hilflos gegenübergestanden, weil sie so ungreifbar, so unbegreiflich sind. Sie kamen wie aus dem Nichts und immer, wenn ich sie greifen wollte, griff meine Hand ins Leere. Aber zum Glück habe ich ja Sie gefunden. Es istschon seltsam, als ich Sie traf, wußte ich, was ich zu tun hatte. Sie haben mir sehr geholfen. Danke.«
Sabine Reich winkte ab, sagte: »Danken Sie nicht mir, danken Sie IHM, seine Wege sind manchmal wirklich unergründlich.«
»Das ist wahr.«
»Und wenn irgend etwas ist, Sie haben meine Privatnummer. Sie können mich jederzeit anrufen, sollten irgendwelche Probleme auftreten. Nehmen Sie eigentlich zur Zeit Medikamente?«
Marianne Rosenzweig schüttelte den Kopf. »Nein, ich will auch keine. Ich möchte mich nicht von solchen Dingen abhängig machen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Natürlich. Aber Schwester Fink würde Ihnen sicherlich etwas verschreiben. Es gibt inzwischen hervorragende angstlösende Medikamente, die zum Beispiel Verspannungen beseitigen, aber nicht abhängig machen. Und solche Medikamente stehen auch nicht in irgendeinem Widerspruch zu den Grundsätzen der Kirche.«
»Trotzdem, ich komme schon klar. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich werde jetzt gehen, es gibt noch eine Menge zu erledigen bis zur
Weitere Kostenlose Bücher