Letale Dosis
geboren wurde, kenne ich keine andere Welt als die der Kirche. Ich bin so unselbständig wie ein neugeborenes Baby. All die Jahre über bin ich wie eine Marionette gewesen, habe getan, was andere mir gesagt haben, habe nicht aufbegehrt, auch wenn mir bisweilen danach zumutewar, aber ich war feige, einfach feige. Und jetzt soll mir auf einmal die Welt zu Füßen liegen? Das schaffe ich nicht.«
»Warum haben Sie nicht aufbegehrt? Hatten Sie Angst, andere vor den Kopf zu stoßen, oder hatten Sie Angst vor Ihrer eigenen Courage? Angst davor, von den andern schief angesehen zu werden?«
Marianne Rosenzweig schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich weiß es nicht, vielleicht von allem etwas. Sie kennen ja meine Kindheitsgeschichte, Sie wissen, wie ich groß geworden bin, aus was für einem Elternhaus ich stamme, wie ich erzogen wurde, wie ich meinen Mann kennengelernt habe. Aber eines weiß ich ganz sicher, die Welt wird mir nie zu Füßen liegen, dafür bin ich einfach nicht der Typ. Ich müßte so viele meiner Eigenschaften ändern, ich müßte meinen Lebensstil ändern, und das kann ich nicht. Ich werde weiter meinen Aufgaben und Pflichten in der Kirche nachkommen, wahrscheinlich mehr denn je, werde versuchen, Aaron und Joseph eine gute Mutter zu sein und mein Leben so einzurichten, daß ich ohne einen Mann auskomme.«
»Schwester Rosenzweig, über Ihre Kindheit und Ihre Erziehung haben wir schon ausführlich gesprochen. Ich dachte, dieses Thema wäre abgehakt. Und kein Mensch verlangt, daß Sie von heute auf morgen Ihre Eigenschaften ändern oder Ihren Lebensstil. Und Sie sind eine liebenswürdige, intelligente Frau, die irgendwann …« Sabine Reich hielt inne, nahm die Tasse vom Tisch und trank einen Schluck von ihrem Tee.
»Die irgendwann …«
»Nun, ich will jetzt nicht irgend etwas Falsches sagen, doch der Tag wird kommen, an dem auch für Sie wieder ein Mann interessant werden könnte. Die Zukunft ist nicht nur heute und morgen, die Zukunft ist auch in zwei oder fünf oder zehn Jahren. Und Sie können es schaffen, das weiß ich. Ihr geistiges und seelisches Potential ist groß. Und als Ihre Therapeutin sage ich Ihnen, es wäre falsch, das Augenmerk allein auf die Kirche zu richten, was nichtheißen soll, daß Sie sich davon abwenden sollen. Es ist aber wichtig, ein Gleichgewicht zwischen dem Leben und der Kirche zu schaffen. Die Kirche allein ist nicht das Leben, oder sollte es zumindest nicht sein. Wenn wir unser ganzes Leben nur auf die Kirche ausrichten, sind wir auf eine gewisse Weise gefangen. Und das ist nicht der Sinn des Evangeliums.«
Marianne Rosenzweig sah Sabine Reich mit großen Augen an. »Die Kirche war aber fast vierzig Jahre lang mein ganzes Leben.«
»Und Ihre Ängste, Ihre Depressionen? Was glauben Sie, was ist die Ursache dafür? Hat die Kirche Ihnen dabei helfen können?«
»Das hört sich fast blasphemisch an«, erwiderte Frau Rosenzweig mit einem zaghaften Lächeln.
»Mag sein. Soll es aber nicht. Ich möchte Ihnen nur klarmachen, daß dieses Leben aus mehr besteht als nur der Kirche. Nicht mehr und nicht weniger. Ich glaube an Gott, Sie glauben an Gott. Aber hat er uns verboten, ins Kino zu gehen oder zu tanzen oder einfach nur Freude zu haben? Hat er uns verboten, zu lachen, zu weinen, einmal den ganzen Frust aus uns herauszuschreien? Sie haben all die Jahre über Ihre Sorgen und Nöte, Ihre Probleme und vor allem Ihre Frustrationen in sich hineingefressen, Sie haben sich nie die Blöße gegeben, einmal aus der Haut zu fahren, Sie haben einfach nur funktioniert … wie man es Ihnen beigebracht hat. Und jeder, der mit Ihnen zu tun hatte oder hat, ist froh, auf einen solchen Menschen zu treffen, denn ein solcher Mensch ist leicht manipulierbar, läßt sich wunderbar lenken und ist letztendlich nur eine Marionette, wie Sie eben selbst sagten. Das aber, Schwester Rosenzweig, haben Sie nicht verdient. Kein Mensch hat es verdient, eine Marionette in den Händen anderer zu sein. Sie sollten anfangen zu agieren, anstatt nur zu reagieren. Leben Sie, genießen Sie das Leben. Ich weiß, es ist noch früh, so wenige Tage nach dem tragischen Verlust Ihres Mannes, aber ich möchte Ihnen gerade heute aufzeigen, welche Möglichkeiten Sie haben.Machen Sie etwas aus Ihren Fähigkeiten, fangen Sie wieder an, Klavier zu spielen …«
»Es ist lange her …«
»Aber nicht zu lange. Und vor allem, denken Sie auch einmal an sich. Nicht nur die andern sind wichtig, sondern in allererster Linie Sie
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