Letale Dosis
Knie endenden Rock, der, als sie sich setzte, noch ein wenig weiter nach oben rutschte.
»Was glauben Sie denn, was er Ihnen verschwiegen haben könnte?« fragte Sabine Reich.
»Ich weiß es nicht. Aber ein Gefühl sagt mir einfach, daß es so war. Ich glaube wirklich, ich habe ihn nicht gekannt. Ich kannte nur sein Äußeres, sein Inneres hat er vor mir verborgen. Er war liebenswürdig, immer um mich bemüht, auch wenn es mit den Jahren etwas weniger wurde. Er war den Kindern ein guter Vater, ich konnte mich auf ihn verlassen, wir haben über vieles gesprochen, er hat mir sein Herz ausgeschüttet, wenn es einmal im Geschäft nicht so lief, wie er sich das vorstellte, und das gleiche konnte ich bei ihm tun. Und doch, es muß etwas gegeben haben, das er mir nicht erzählt hat.«
»Und was?«
»Ich zermartere mir seit drei Tagen den Kopf deswegen, und ichkomme zu keinem Resultat. Manchmal denke ich, er hatte vielleicht doch eine Geliebte. Ich hätte es sogar verstanden, auch wenn es für eine Frau immer eine Demütigung ist, wenn der Mann fremdgeht. Aber ich habe ihn geliebt, und selbst wenn er eine Geliebte hatte, dann ist das doch noch lange kein Grund …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht. Warum mußte er so grausam sterben? Warum? Und der schlimmste Gedanke von allen ist, wer hat das Gift in seinen Schreibtisch getan? Und wie? Ich habe unsere Haushälterin eingehend befragt, aber sie sagt, sie hätte sein Zimmer nie betreten, weil er es ausdrücklich so gewünscht hatte. Und ich glaube ihr, sie arbeitet schließlich schon seit mehr als fünfzehn Jahren bei uns. Ich weiß nicht, in meinem Kopf ist ein riesiges Karussell, das sich immer schneller dreht.« Marianne Rosenzweig machte eine Pause, atmete tief ein, schloß kurz die Augen, betrachtete dann ihre Finger, die wie zum Gebet gefaltet auf ihrem Schoß lagen.
»Und was macht Ihre Angst? Ist es schlimmer geworden?«
Marianne Rosenzweig lachte kurz auf, sagte: »Um ehrlich zu sein, ich habe in den letzten Tagen und Nächten keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken.«
»Das ist doch gut; ich meine, es ist natürlich nicht gut, daß Ihr Mann tot ist, aber Sie können sehen, daß Angst oftmals mit einer gewissen Unausgefülltheit einhergeht. Womit ich nicht sagen will, Ihr Leben sei nicht ausgefüllt, aber manchmal setzen wir unsere Prioritäten falsch. Ich hatte eigentlich, nach unserer letzten Sitzung, einen bestimmten Plan, was wir heute machen würden, doch ich denke, wir sollten heute nicht nach Plan vorgehen. Erzählen Sie mir etwas über Ihre Gefühle, darüber, wie Sie im Augenblick fühlen und denken. Was Sie bewegt, vielleicht sogar, wie Sie sich Ihre Zukunft vorstellen. Sind Sie damit einverstanden?«
Marianne Rosenzweig nickte, fragte: »Wir machen heute nicht die übliche Behandlung?«
»Nein, wir sollten damit jetzt einige Zeit warten. Im Moment ist es wichtig, daß Sie eine klare Linie in Ihr Leben bekommen, daß wir vielleicht gemeinsam darüber sprechen, wie Sie Ihre Zukunft sehen.«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Frau Rosenzweig, krampfte die Hände ineinander und verzog die Mundwinkel. Sie wollte die Tränen unterdrücken, es gelang ihr nicht ganz. Einige lösten sich aus ihren Augenwinkeln, liefen über die blassen Wangen. Sie begann zu schluchzen, schüttelte den Kopf, das Schluchzen ging in einen Weinkrampf über. Sabine Reich machte sich einige Notizen, blickte auf die ihr gegenübersitzende Frau. Nachdem sie sich beruhigt hatte, nahm Marianne Rosenzweig ein Taschentuch, wischte sich die Tränen vom Gesicht, schneuzte sich die Nase, sah mit rotgeränderten Augen auf ihre Therapeutin.
»Es tut mir leid«, sagte sie, doch Sabine Reich lächelte nur verständnisvoll und winkte ab. »Es tut mir leid, wenn ich mich habe gehenlassen. Aber ich sehe im Moment keine Zukunft. Es ist alles so leer und trostlos. Ich habe Gott angefleht, mir beizustehen, aber ich habe gerade jetzt das Gefühl, der einzige Mensch auf dieser Welt zu sein. Der einzige Mensch in einem tiefen schwarzen Loch …«
»Sie haben vorhin aber von einer Nebelwand gesprochen …«
»Ist das nicht das gleiche?«
»Sie haben Ihre Söhne. Und Sie sind noch nicht einmal vierzig. Sie haben noch eine Zukunft vor sich. Sie sehen blendend aus, die Welt kann Ihnen zu Füßen liegen. Es liegt an Ihnen.«
Marianne Rosenzweig lachte trocken und kehlig und irgendwie bitter auf. »An mir?! Welche Welt soll mir denn zu Füßen liegen? Die Welt der Kirche? Seit ich
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