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Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Titel: Lettie Peppercorn und der Schneehaendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Gayton
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verfehlt!«, stieß Noah verdattert hervor. »Unfassbar!«
    Aber schon eine Sekunde später wurde Lettie klar, dass die Glotzerin gar nicht auf Blüstav gezielt hatte – sondern auf die Ranken unterhalb seiner Füße!
    Keine Stunde zuvor hatte noch der Koffer darin gehangen. Jetzt fädelte sich die Harpune in das Rankengewirr und spannte es straff. Keine einzige Ranke gab nach, Noah hatte sie einfach sehr stark verknotet.
    »Wie schlau von ihr«, sagte Noah, und in seiner Stimme schwang ein Hauch Bewunderung mit. »Hätte sie auf Blüstav geschossen, hätte die Harpune seinen Mantel zerfetzt und die Wolke wäre entfleucht.«
    »Ja«, gab Lettie ihm verbittert recht. »Und jetzt kriegen die alten Schachteln sowohl den Schnee als auch ihre Rache.«
    Die Harpune steckte im Rankengeflecht fest. Blüstav schwamm und strampelte und zappelte immer noch so heftig, dass ihm die Adern am Hals hervortraten. Aber er konnte nichts dagegen tun, dass er langsam, aber sicher Richtung Blutkübel herabsank, wo zwei alte Frauen wie wilde Tiere an Deck hin und her tigerten. Rastlos. Hungrig.
    Lettie ließ Blüstav durchs Fernrohr nicht aus den Augen. Sie war sich sicher, dass er sich wieder irgendeinen neuen, wundersamen Fluchtweg erarbeiten würde. Und tatsächlich – er griff über seinen von der Wolke aufgeblähten Bauch und tastete nach seiner Manteltasche. Er wand und wälzte sich durch die Luft und sank immer tiefer auf das Walfängerschiff zu, auf dem Rotz-Hotte Charlie mit einem Netz auf ihn wartete und Käpt’n McNulty schon mal den Deckel von einem leeren Fass herunternahm.
    »Da wollen sie wohl die Schneewolke reinstopfen«, vermutete Noah. »Nachdem sie sie Blüstav abgeluchst haben.«
    Lettie verzog das Gesicht. Dann schloss sie die Augen und versuchte ihre Mutter zu erspüren. Nichts. Sie konnte einfach nichts tun, außer am Fenster zu stehen und zuzusehen. Es erinnerte sie an ihr altes Leben im Gasthaus. So schrecklich, so frustrierend!
    Mit ihrem ganzen Willen drängte sie Blüstavs Finger dazu, ihren Weg in die Tasche zu finden. Der Alchemist schwebte inzwischen keine drei Meter mehr über dem Schiffsdeck …
    »Komm schon … Gleich hat er’s …«
    Plötzlich hatten seine Finger es in die Tasche geschafft und zogen etwas Kleines, Rundes hervor: ein Fläschchen! Offenbar hatte er doch noch eine alchemistische Substanz bei sich – aber welche? Lettie hatte eigentlich gedacht, sie hätte sie alle an Bord der Leuthas Holz aufgebraucht. Aber nein … Auf einmal erkannte sie, welche Substanz es war: Blüstav hatte sie schon zweimal verwendet, für das Walross und für ihren Vater. Gastromajus, die Substanz, die einen in seine letzte Mahlzeit verwandelte.
    Entsetzt sprangen die beiden alten Schachteln beiseite. Das Walross legte schützend die Hände über den Kopf, und die Glotzerin tauchte zwischen Käpt’n McNultys Beinen ab. Aber Blüstav schraubte die Flasche auf und … kippte sich den Inhalt in den Mund.
    »Er trinkt sie selbst!«, rief Noah aus.
    Drei rosafarbene Tropfen fielen auf Blüstavs Zunge. Den Rest schüttete er sich über den Kopf, sodass ihm die Flüssigkeit über und unter den Mantel rann und ihn von oben bis unten durchnässte.
    Schwarzer Rauch wallte auf, grüne Funken flogen nach allen Seiten. Blüstavs Kopf schrumpfte, sein Körper wuchs. Sein Mantel verfärbte sich grau und begann Blasen zu werfen.
    »In was verwandelt er sich denn da?«, fragte Lettie.
    Noah runzelte die Stirn. »Tee hat er jedenfalls keinen getrunken.«
    »Ich kann mich nicht erinnern, ihn überhaupt jemals dabei gesehen zu haben, wie er irgendwas zu sich nahm«, sagte Lettie.
    »Ich schon, da bin ich mir sicher. Aber ich weiß nicht mehr, was es war …«
    Damit tauchten Lettie und Noah wie zwei Fischer, die ihre Netze auswerfen, in die Tiefen ihres Gedächtnisses, um die entscheidende Erinnerung heraufzuholen. Und dann riefen sie beide gleichzeitig aus: »Muscheln! Auf der Leuthas Holz !«
    Lettie sah wieder zum Walfängerschiff hin, über dem sich der Rauch langsam lichtete. Blüstav war verschwunden. Stattdessen lag dort ein gepunktetes, anderthalb Meter langes Oval und glänzte. Durch das Fernrohr sah die Muschel wie das Ei einer Monsterhenne aus. Blüstav landete krachend auf dem Deck der Blutkübel.
    Blüstav, der Lügner  …, dachte Lettie. Blüstav, der Dieb. Blüstav, der Betrüger. Und jetzt … Blüstav, die Muschel.
    »Er hat die Schneewolke in seiner Muschelschale eingeschlossen«, sagte Noah.

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