Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Gedanken loswerden, sonst würde sie platzen.
»Du bestehst also aus Luft«, sagte sie.
»Aus Luft, Äther und ein bisschen Klebstoff«, erwiderte ihre Mutter. »Ein Glück, dass du erst zwölf bist … Wärst du älter, könntest du das alles vielleicht gar nicht mehr glauben.«
»Und ich … ich bin aus Stein.«
»Nein, nicht nur aus Stein. Da waren noch tausend andere Dinge beteiligt … Alchemie ist Veränderung, Lettie. Und Veränderungen hören niemals auf. Dein ganzes Leben lang nicht. Nach deiner Geburt hast du so viel mehr von uns bekommen.«
»Zum Beispiel?«
»Jemand hat mal gesagt: ›Es sind die kleinen Handlungen, die namenlosen, bald vergessenen, die man aus Zuneigung und Liebe tut‹«, zitierte Teresa. »Und genau das ist es, was wir dir in den Jahren nach deiner Geburt eingeflößt haben: unsere Liebe, unsere Zeit, unsere Hoffnung. Aber dann musste ich weg, und wir haben damit aufgehört.«
»Das stimmt nicht, Mama«, widersprach Lettie. »Vorhin, da hast du deine Hände von meinen gelöst, bevor du sie in die Handschuhe gesteckt hast. Du hattest mich seit Jahren mit ihnen geleitet, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe dich immer mal wieder in die richtige Richtung geschubst. Meine Hände haben dich hierhergeführt.«
Lettie schüttelte verwundert den Kopf. »Ich wusste zwar, dass in dem Wind etwas war, was mich leitete, mich hierhin und dahin zog. Ich hatte nur keine Ahnung, dass du es warst.«
»Mehr Mutter konnte ich dir nicht sein, Lettie, und ich weiß, dass das bei Weitem nicht genug war. Es tut mir leid. Ich habe so lange gebraucht, um mich wieder zusammenzusetzen. Aber jetzt bin ich hier, und wir können wieder eine Familie werden.«
»Die merkwürdigste Familie der Welt«, sagte Lettie. »Ein Stein, ein Windhauch und eine Bierflasche.«
Ihre Mutter lachte. »Ja! Aber mach dir keine Gedanken, weil du aus Stein bist, Lettie. Jetzt ist mein alter Meister wieder da und wird mir zurückgeben, was er mir vor zehn Jahren gestohlen hat.«
Sie sah zu Blüstav hoch, der winselnd über ihnen schwebte.
»Lass sie los«, sagte Letties Mutter streng. »Es ist eine Wolke, sie gehört an den Himmel.«
»Nein, sie gehört mir«, widersprach Blüstav mit quietschender Stimme und ruderte verzweifelt Richtung Fenster.
»Seit zehn Jahren setzt du das Leben meiner Tochter aufs Spiel. Aber jetzt ist Schluss damit. Lass die Wolke ziehen.«
»Sonst sterbe ich«, fügte Lettie hinzu. »Ich verwandle mich irgendwann in Stein. Möchten Sie etwa, dass das passiert?«
Blüstav schüttelte eifrig den Kopf, dann zuckte er zusammen, als ihm die Wolke unter seinem Mantel wieder einen Stromschlag verpasste.
»Wohin willst du diesmal fliehen, Blüstav?«, fragte Teresa finster. »Meinst du, du kannst dem Wind entkommen?«
Der Alchemist hatte inzwischen das Fenster erreicht und nestelte verzweifelt am Griff herum. Mit trauriger Miene stieg Letties Mutter auf die Ranken, die immer noch um seine Arme und Beine geschlungen waren.
»Lass mich los!«, bettelte Blüstav und riss das Fenster auf.
»Sie waren zehn Jahre lang fast gefroren – wegen dieser Wolke!«, sagte Lettie. »Warum lassen Sie sie nicht einfach ziehen? Bitte, Blüstav. Bitte.«
Gespannte Stille senkte sich über den Raum. Blüstav griff nach seinem Kragen. Langsam, so als bereite es ihm Schmerzen, öffnete er einen Knopf. Eine Minute verging, dann kam der zweite Knopf dran. Ein weißer Wolkenfaden kringelte sich an Blüstavs Nacken entlang aus seinem Mantel. Der Alchemist glitt zu Boden.
Lettie staunte. Blüstav hatte tatsächlich seine Gier besiegt. Er hatte sich wirklich verändert .
»Danke«, sagte Teresa und hielt ihm ihre Hand hin. »Danke, Blüstav.«
Er nahm ihre behandschuhte Hand und schlug die Augen auf – und plötzlich sah Lettie darin wieder diesen besonderen Glanz. Diese Verschlagenheit.
»Nicht!«, schrie sie, aber es war bereits zu spät.
Blüstav nahm Teresas Hand nicht einfach nur in seine – er riss ruckartig daran, löste den Handschuh vom Rest des Körpers und warf ihn aus dem Fenster.
»Mama!«, schrie Lettie.
Teresa hielt sich sofort den Ärmel zu, aber schon war eine Windfahne aus dem Mantel entwichen und wirbelte im Raum umher. Der Kerzenleuchter schwankte, die Fenster erzitterten, ein paar alte Bücher stürzten aus dem Regal. Lettie fuhr herum und suchte nach ihrer Mutter, aber da war nichts. Teresas Kleider lagen dort, wo sie eben noch gestanden hatte, auf einem Haufen
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